Aufregung ist eine Tochter der Zeit Griss darf, was Haider nie durfte

In der Politik wird oft mit zweierlei Maß gemessen, aber der laufende Wahlkampf um das Präsidentenamt macht das besonders deutlich.

Hat ein Kollege recht, wenn er meint, dass es sehr auf die Person ankomme, ob sich die Öffentlichkeit über eine Aussage aufrege oder nicht? Sollte es nicht eher so sein, dass eine Aussage problematisch ist oder nicht – unabhängig von der Person? Vor allem, wenn es sich um Politiker handelt oder solche, die es werden wollen. Wir bemerken das zweierlei Maß gar nicht mehr.

Diese Fragen drängen sich bei einem Alternativtest für Irmgard Griss, Kandidatin für die Präsidentschaft, auf: „Es war nicht so, dass die Nazis von Anfang an nur ein böses Gesicht gezeigt hätten“, ließ sie im „Falter“ wissen. Man stelle sich also vor, welche Reaktionen dieser Satz, verwendet von Norbert Hofer oder jedem anderen Spitzenpolitiker der FPÖ, ausgelöst hätte. Aufgeregt würden manche von uns Journalisten, wild die Nazi-Keule schwingend, durch die politische Landschaft rennen. Wie einst unter Jörg Haider.

Griss' Aussage im Interview entfachte ein Lüfterl in den sozialen Medien, weder Shit noch Storm. Im Großen und Ganzen wurde sie einfach ignoriert. Sie selbst machte mit ihren Erklärungsversuchen in der „ZiB 2“ die Sache nur noch schlimmer: Die Menschen seien verführt worden. Was haben wir mit Jörg Haider aufgeführt, als dieser solcherart politische Seelenmassage bei potenziellen Wählern betrieben hat, indem er die Opferlüge bestätigt hat. Es war ja nicht alles schlecht. Das hören jetzt noch viele gern. Eine gewisse DNA-Botschaft in Österreich also.

Aber heute alteriert sich deshalb niemand mehr. Sind wir so gleichgültig und unsensibel geworden? Oder haben wir uns so sehr daran gewöhnt, je nach Popularität und/oder Opportunität verschiedene Maßstäbe anzulegen?

Früher hat es immer geheißen, man sollte die Worte in der Politik im Allgemeinen und in einem Wahlkampf im Besonderen nicht auf die Waagschale legen. Sehen Sie, wohin uns das gebracht hat? In ein System, das von vielen zutiefst abgelehnt wird.

Deshalb sollten wir die Worte einer Höchstrichterin, die eigentlich gewohnt sein muss, auf deren Wirkung und Konsequenz zu achten, sehr wohl auf die Goldwaage legen: Was also heißt von „Anfang an“? Nur die Zeit in Österreich vom Anschluss im März 1938 bis zur „Reichskristallnacht“ im November dieses Jahres? War das genug „Anfang“? Oder die Ereignisse in Deutschland ab 1933? Zeigten sie das freundliche Gesicht der Nazis? „Mein Kampf“ war 1932 ein Bestseller – ein Wohlfühlbuch? Laut Griss hätten die Österreich am Anfang nichts bemerkt und seien später verführt worden.

Eine Frage lässt sich allerdings (noch) nicht beantworten: Würden solche Gedankengänge heute von den viel vorsichtiger gewordenen FPÖ-Politikern publik, wäre dann auch der Teufel los wie in den 1990ern? Oder sind wir auch da abgestumpft?

Für Griss beschreibt ihre „Aussage den tatsächlichen Zustand“ damals. Und sie schießt „die Wahrheit“ nach: Verführung! Man könnte sich damit zufriedengeben, würde sich nicht das unpolitische Gesicht der Kandidatin zeigen – und nicht zum ersten Mal.

Griss hat leider kein ausgeprägtes Gespür für das Politische ihrer Aussagen: Sie bezeichnete ihre Beamtenpension von mehr als 9000 Euro monatlich als „normal“. Warum hat ihr ein Berater nicht zu einer anderen Wortwahl geraten? Das geht so nicht. Die Mehrheit ihrer Wähler muss mit einem kleinen Bruchteil davon auskommen.

Sie kritisierte die Arbeit des Hypo-Untersuchungsausschusses, nachdem ihre Hypo-Kommission Protokolle vernichtet hat. Ging auch nicht. Ihr Demokratieverständnis konnte in Zweifel gezogen werden. Sie wiederholt ständig, dass sie als Bundespräsidentin zurücktreten würde, würde sich eine Diktatur abzeichnen. Erinnert sie niemand an Wilhelm Miklas am 13. März 1938?

Zugegeben, es ist schwierig als Antipolitikerin aufzutreten und doch politisches Gespür zu beweisen. Aber der urösterreichische Satz kann für Griss nicht gelten: Wir wer'n kan Richter brauchen!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.