„Heutzutage müssen Sie froh sein“. Neujahrsgrüße an Christian H.

Warum das Suhlen im eigenen Grant kein Erfolgsrezept sein kann und es besser wäre, zu jedem Ärgernis Alternativen und Handlungsvarianten zu bedenken.

Bei guten Nachrichten sollte man nicht wählerisch sein und sie nehmen, wie sie (herein-)kommen. Das IMAS-Institut lieferte jüngst solche: Es gibt sieben Prozent mehr Optimisten in Österreich als zu Beginn des abgelaufenen Jahres. Die Umfrage fand allerdings schon im November statt, also vor der Tragödie am Berliner Weihnachtsmarkt.

Dennoch: Zu Beginn 2017 sind also 38 Prozent der Österreicher optimistisch. Herr Christian H. ist offenbar nicht dabei. Jüngst brachte er in einem sozialen Medium diese Zeilen zur Kenntnis: „Heutzutage müssen Sie froh sein, dass Sie eine Frau kennenlernen, die in irgendeinem Konzern Marketingleiterin ist, Sie selbst vor 20 Jahren auf die richtigen Aktien gesetzt haben und dass Ihre Kinder nicht schon drogensüchtig sind, von all dem Schwachsinn, den sie von den aktuellen Politikern hören . . .!!!“

Christian H. reagierte auf einen Kommentar an dieser Stelle, in dem zum wiederholten Mal die Schreibe davon war, dass die Festigung unseres demokratischen Systems auch für die Zivilgesellschaft Priorität haben sollte. Es ist also Zeit, Herrn Christian H. eine offene Antwort zukommen zu lassen:

Sehr geehrter Herr H., Ihre Sicht der Dinge macht sehr betroffen. Was muss das für ein Leben sein, in dem man alles und alle für „dämlich“ hält und für alles, was einem nicht gefällt, verantwortlich machen kann; an der ganzen Entwicklung seit den 1970er-Jahren nichts Positives und sich selbst nur als Opfer des kollektiven Schwachsinns sehen kann?

Mein Vorschlag, sehr geehrter Herr H., wäre: Probieren Sie es einfach mit einem Wechsel der Perspektiven. Sie schreiben, dass heute niemand mehr wie ihr Vater einen kleinen Betrieb leiten, zwei Mal im Jahr nach Kitzbühel auf Schi- und nach Lignano zum Meerurlaub fahren, sich jedes Jahr ein neues Auto leisten und ein Wochenendhaus bauen kann.

Man kann das aber auch so sehen: Sie scheinen eine tolle Kindheit gehabt und von ihrem Vater ein Wochenendhaus geerbt zu haben. Sie schreiben weiter, dass das alles „ohne dämliche EU, ohne dämlichen Juncker, ohne dämliche Merkels und Obamas und ohne Globalisierung“ möglich war. Man kann es aber auch so sehen: Ihre Kinder starten von einem viel höheren Niveau als Sie; sie haben ganz andere Möglichkeiten; sie können die Vorteile des geeinten Europa (Erasmus-Programm, Niederlassungsfreiheit) und auch jene der Globalisierung nützen, sofern sie das denn wollen. Sie haben Chancen, die Sie nicht hatten – in den gelobten 1970er-Jahren. Sie brauchen aber dazu auch in Zukunft die Rahmenbedingungen stabiler Demokratien in Europa.

Sie schreiben, verehrter Herr H., dass alles, was vor 40 Jahren in Österreich möglich war, heute nicht mehr geht – wegen der Flüchtlinge, der „Attacken auf unseren Sozialstaat, der Hofierung der Konzerne“ etc. Man kann das aber auch so sehen: Flüchtlinge und Zuwanderung können, richtig bewältigt, auch die Wirtschaft beleben (siehe jüngste Daten aus Deutschland); der Sozialstaat könnte unter Druck endlich reformiert, die Verschwendung beendet werden. Auch davon profitieren Ihre Kinder.

Wir – auch die Medien – haben uns in den vergangenen Jahren darin gefallen, alles Politische für dumm, erbärmlich, jämmerlich und einfallslos zu halten. Das hat Ihnen, verehrter Herr Christian H., wahrscheinlich aus der Seele gesprochen. Nur, was hat es uns in Österreich gebracht? Fühlen wir uns besser deshalb? Wohl nicht. 52 Prozent beklagen die schlechte politische Stimmung im Land.

Wenn das Suhlen im eigenen Grant aber kein Erfolgsrezept ist, könnte man gleich in Alternativen denken: Wie schön, dass Ihre Frau ökonomisch unabhängig ist; wie gut, dass Sie sich vor 20 Jahren Aktien kaufen konnten; wie fein, dass Ihre Kinder sich nicht manipulieren lassen.

In diesem Sinn, Herr Christian H., herzliche Neujahrsgrüße!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2016)

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