Die Republik der Einäugigen Anstand fehlt stets nur den „anderen“

Wer sich nur mehr um strafrechtliche Relevanz kümmern muss, dem ist „schiefe Optik“ schon egal. ÖVP-Abgeordneter Stummvoll sollte aber vor dem Wechsel zu Stronach zur Besinnung gebracht werden.

Hier wird nicht die Suche nach jenen Einäugigen gestartet, die man unter lauter Blinden vielleicht doch noch als Königsfiguren in der heimischen Politik ausmachen könnte. Hier geht es um all jene in Politik und Medien, welche die Massenenthüllungen von Affären der vermischten Art in den letzten Wochen nur mit einem Auge betrachten. Damit sehen sie jegliche Schuld stets im Lager der anderen, nie im eigenen.

Da fangen sie dann an zu hyperventilieren. Die daraus resultierende Kurzatmigkeit trübt irgendwann gänzlich den Blick. Das gilt zur Zeit für Vertreter des rechten wie des linken Lagers. Dabei tragen die hysterischen gegenseitigen Schuldzuweisungen und Abwehrreaktionen im eigenen Bereich rein gar nichts zur Verbesserung der Situation bei; beinhalten nicht einen einzigen Vorschlag, wie man zu einer saubereren Republik kommen könnte; was zu unternehmen wäre, um endlich ein für alle Mal die „Schweinereien“, wie es Erste-Chef Andreas Treichl beim Forum Alpbach nannte, mit Konsequenz(en) zu beenden.

Natürlich ist es nicht korrekt, wenn über eine Ermittlung gegen Werner Faymann und Josef Ostermayer (beide SPÖ) nicht ausführlich berichtet wird. Aber Ermittlungen nach einer Anzeige eines FPÖ-Politikers haben eine andere Qualität als die täglichen Überraschungen des Systems Telecom etwa. Natürlich ist es noch weniger korrekt, wenn über Ermittlungen gegen Verteidigungsminister Norbert Darabos (auch SPÖ) wegen Amtsmissbrauchs bei einer Beamtenbestellung überhaupt nicht berichtet wird. Daraus kann man eine linke Verschwörung konstruieren, wenn man will. Vor allem, wenn man darauf aus ist, Machenschaften der schwarz-blauen Jahre zu verharmlosen.

Mit dem wahren Problem hat das nichts zu tun. Dieses besteht in den Allmachtsfantasien der Vertreter aller Parteien, wie sich noch herausstellen dürfte. Sie sahen und sehen einfach die Grenzen nicht zwischen dem, „was geht und was nicht geht“. Es ist ihnen offenkundig jedes Gespür für irgendwelche Richtlinien und Maßstäbe abhandengekommen.

Sie wollen es einfach nicht verstehen oder sie können es nicht mehr. Wie zur Bestätigung sämtlicher Vorurteile lässt sich just in diesen Wochen des flächendeckenden Imageschadens für Politik und Wirtschaft ein ÖVP-Abgeordneter von Frank Stronach auf den Chefsessel des Aufsichtsrats der „Merkur Entertainment AG“ hieven. Er will im Glückspielgeschäft mitmischen.

Es gilt die Schamlosigkeitsvermutung. Denn Günther Stummvoll (ÖVP) hat auch noch die Stirn, das alles im „Standard“ so zu begründen: Er wolle „sich anschauen“, wie das Glückspielgesetz (mit seiner Beteiligung) „in der Praxis funktioniert“. Das ist eine atemberaubende Verhöhnung der Öffentlichkeit.

Diese weiß, Frank Stronach „hält“ sich seit Jahren Ex-Politiker, oft auf Jobs ohne reale Arbeit. Er hat das System politischer Vernetzung und Einflussmöglichkeiten perfektioniert. Und da will Stummvoll zur Praxisbeobachtung engagiert worden sein?

Das wirkliche Problem ist also nicht die Zuordnung der Affären zu rechts und links, sondern der fehlende Anstand allerorten. Das ließe sich ändern, aber nicht durch Geschrei, sondern durch Umdenken und gute Beispiele. In diesem Sinn ist zu hoffen, dass Stummvoll zur Besinnung kommt oder von seiner Partei zur Besinnung gebracht wird.


Reaktionen senden Sie bitte direkt an:debatte@diepresse.com


Zur Autorin:

Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse.com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.