Österreichs politische Klasse ist zur Anspruchsplutokratie erstarrt

Verständnislos wie einst der Hof des Zaren oder die dekadente Aristokratie in Versailles steht die politische Elite der berechtigten Wut ihrer Wähler gegenüber.

Fänden am nächsten Sonntag Nationalratswahlen statt, käme die FPÖ praktisch allen Umfragen zufolge auf Platz eins. Bemerkenswert ist weniger der Sachverhalt an sich – angesichts des kraftvollen „Neuen Regierens“ der Bundesregierung wäre alles andere eine Überraschung –, sondern die Reaktion der solcherart vom Souverän per demoskopischem Befund gedemütigten Großen Koalition. Dieser fiel nämlich nichts besseres ein, als nach einer Schrecksekunde anzukündigen, Spesen und Diäten der Abgeordneten erhöhen zu wollen.

Auf so eine Idee muss man in dieser Situation erst einmal kommen. Die Regierung scheint fest entschlossen zu sein, ihre ewigwährende Lernunfähigkeit unter Beweis zu stellen, anders ist dergleichen nicht zu interpretieren. Warum das so ist, weiß niemand wirklich. Aber eine mögliche Erklärung dieses offenkundigen Systemversagens könnte sein, dass der allergrößte Teil der politischen Klasse sich einfach schon zu lang und zu weit weg von den Lebensumständen und Lebensbedingungen der Wähler– oder eben Nichtwähler – bewegt hat, um deren Emotionen, Befindlichkeiten, Ängste und Hoffnungen noch irgendwie nachvollziehen zu können.

Wenn die Spesen und Diäten um 200 oder 300 Euro angehoben werden, dann ist das in der Wahrnehmung dieser politischen Klasse tatsächlich kein besonders erwähnenswerter Betrag. Wer selbst als Abgeordneter 8000 Euro im Monat plus allfällige Bezüge im Brotberuf verdient, oft als Angestellter im staatsnahen oder staatlichen Sektor Anspruch auf eine Pension hat, die ein materiell goldenes Alter sichert, der hat naturgemäß eine andere Perspektive auf die paar Hunderter als ein Pensionist oder Student, der mit solchen Beträgen zwei Wochen über die Runden kommen muss.

Man kann den Politikern dieses von ihren ökonomischen Umständen bestimmte Bewusstsein nicht einmal wirklich vorwerfen. Jeder andere, den ein günstiges Schicksal in eine derart abgesicherte Komfortzone des Lebens geführt hätte, würde darauf früher oder später nicht viel anders reagieren. Ausreichend Geld und ausreichend Sicherheit korrumpieren nicht zwangsläufig, aber sie ändern die Sicht auf das Leben. Und auf den Wert von ein paar Hundertern.

Das hat aber zur Folge, dass sich rund um die Machtzentren, die großen staatsnahen Apparate und Institutionen eine kleinplutokratische Klasse gebildet hat, deren wesentliches Charakteristikum nicht Reichtum, sondern außerordentlich hohe und gut abgesicherte finanzielle Bezüge auf Lebenszeit sind. Gleichsam eine Anspruchsplutokratie, deren ungekrönte Könige die 30.000-Euro-Pensionisten der Nationalbank sind. Dass die Mitglieder dieser Anspruchsplutokratie angesichts einer simplen Diätenanhebung den Zorn des von ihnen verwalteten Prekariats, das sich irgendwie an der 1000-Euro-pro-Monat-Grenze halten kann, nicht verstehen, ist wenig überraschend. Am Hofe der Zaren in St.Petersburg oder im vorrevolutionären Versailles wusste auch keiner, was da draußen los war.

Indem sich sowohl SPÖ als auch ÖVP ungeniert und immer weiter als Agenturen verstehen, die diese Anspruchsplutokratie organisieren und ihren Funktionären die komfortablen Plätze darin zuweisen, ziehen sie sich immer mehr und immer weiter die tief empfundene Abneigung der nichtprivilegierten Schichten zu, die vielleicht gerade in diesen Tagen angesichts einer von ihrer Pensionsversicherung avisierten Mikropension in Melancholie verfallen.

Dass diese Wähler den Stimmzettel als Ersatzguillotine verwenden, um diese Anspruchsplutokratie zur Hölle zu schicken, wird man ihnen nicht vorwerfen können – auch wenn das Ergebnis gewöhnungsbedürftig sein könnte. Denn seit der EU-Wahl sind sich ja Kanzler und Vizekanzler einig: Wer – wie in diesem Wahlgang Jean-Claude Juncker – die meisten Stimmen bekommt, hat Anspruch auf den Spitzenjob. Gewinnt die FPÖ, hat Strache dieser Logik folgend den Anspruch auf das Kanzleramt.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2014)

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