20 Jahre in der EU: Geständnis eines publizistischen Elchs

Wie es der Europäischen Union im Laufe der Jahre gelungen ist, aus einem einst glühenden Befürworter des Projekts einen ziemlichen Skeptiker zu machen.

Die größten Kritiker der Elche waren, wie wir dank dem deutschen Nonsense-Künstler F.W. Bernstein wissen, früher selbst welche. Genau 20 Jahre (und einen Tag) nach dem Beitritt Österreichs zur EU muss der Autor dieser Kolumne einbekennen: So ein Elch bin ich bezüglich der Europäischen Union in gewisser Weise auch geworden.

Damals, im Vorlauf zum historischen 1. Jänner 1995, als erstmals das blaue Sternenbanner gleichberechtigt neben Rot-Weiß-Rot auf den Regierungsgebäuden flatterte, war ich, was man stereotyp einen „glühenden Befürworter“ des Beitritts nannte. Aus tiefster Überzeugung kampagnisierte ich vor dem Europa-Plebiszit (als Chefredakteur der österreichischen „Wirtschaftswoche“) zugunsten eines „Ja“ zur EU.

Heute glüht, was die europäische Integration und ihre Institutionen anlangt, nichts mehr. An die Stelle der einstigen Glut ist zwar keine Gegnerschaft, aber doch eine mittlerweile recht robust dimensionierte Skepsis gegenüber der real existierenden EU getreten. Mit heutigem Wissen führte ich 1995 gewiss keine aus tiefster Überzeugung kommende Kampagne zugunsten des Beitritts, sondern bestenfalls eine mit zusammengekniffenen Pobacken.

Was aber macht aus einem dezidierten EU-Fan einen desillusionierten EU-Skeptiker? Kurzantwort: Die EU, und die Art, wie sie sich in diesen 20 Jahren verändert hat. Und: Die späte Einsicht, dass die Europäer viel weniger Lust haben, Europäer zu werden, als ich damals irrtümlich vermutet habe.

Dabei spielen die üblichen regulatorischen Brüsseler Blödheiten – Stichwort Glühlampen – noch die geringste Rolle. Dergleichen mag ärgerlich sein, ist aber letztlich mäßig relevant. Schwerer wiegt jene Geisteshaltung, die hinter solchem Unfug steckt. Sie geht davon aus, dass der Unionsbürger eine Art Betreuungsfall ist, dem eine milde, aber unerbittliche staatliche Autorität vorschreiben muss, wie er sein Leben zu gestalten hat, um dieses schadlos bewältigen zu können, und zwar bis in immer kleinere Details. Hier wird nicht, wie dümmliche EU-Gegner fantasieren, eine Diktatur errichtet („EUdSSR“), sondern eher eine komfortable Anstalt, deren Leitung ihre Insassen weitgehend entmündigt hat. Mit einem liberalen, die Freiheit des Individuums wertschätzenden Weltbild hat das leider so viel zu tun wie Brüssel mit einer schönen Stadt.

Damit korrespondiert eine zunehmend anmaßende Haltung, mit der die Berufseuropäer den Insassen dieser Anstalt entgegentreten. Wenn etwa, wie jüngst geschehen, der EU-Kommissionspräsident die Griechen davor warnt, die falschen Parteien zu wählen, deutet das auf ein eigenartiges Verständnis von Demokratie hin – und führt damit jene Geisteshaltung fort, die hinter den törichten Sanktionen gegen Österreich im Jahr 2000 stand. Es ist dies eine Anmaßung, die leider mit einer ebenfalls zunehmenden Missachtung des Rechts und des Rechtsstaats einhergeht. Während auf der einen Seite der Alltag der Europäer bizarr überreguliert wird, wird der Rechtsstaat ohne Weiteres außer Kraft gesetzt, wenn es um wirklich Wichtiges geht.

Zum Beispiel: Dass Griechenland von den anderen EU-Staaten vor der Pleite bewahrt wurde, steht allen politischen und vor allem auch rechtlichen Abreden klar entgegen. „Wir verletzten alle Rechtsvorschriften, weil wir einig auftreten und wirklich die Eurozone retten wollten“, hat die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde auch offen einbekannt.

Falls jemand meint, das „Friedensprojekt Europa“ rechtfertige unter dem Strich all diese Unzulänglichkeiten: Einen Beleg dafür, dass die europäischen Demokratien ohne Existenz der EU wieder Krieg gegeneinander geführt hätten, gibt es nicht. All jene Staaten Europas, die bis 1995 nicht in der EU waren, gerierten sich nicht weniger friedlich als die anderen.

Es gibt ganz gute Gründe, letztlich trotz all dem für die, wenn auch nicht unbedingt diese, EU zu sein. Nur die Glut, die ist längst erloschen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2015)

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