„Europäischer Traum“ – ein Albtraum für seine Opfer von Kosovo bis Libyen

Europa macht Hoffnung: zumindest all jenen noch verbliebenen Diktatoren, die nun wissen, dass sie ihre Völker auch weiterhin seelenruhig vor den Augen der EU knechten können.

Quergeschrieben

Selbstgefällig suhlte sich Europas intellektuelle Klasse im Gefühl der eigenen moralischen Überlegenheit, als vor ein paar Jahren das Buch „Der Europäische Traum“ des Amerikaners Jeremy Rifkin erschien:

„Der alte Kontinent ist der Hoffnungsträger für eine gerechtere Welt. Die USA haben als Vorbild ausgedient [...] Europa hat alte Feindschaften überwunden und vorbildliche Formen des Miteinanders entwickelt [...] die leise Supermacht setzt auf Nachhaltigkeit und Ausgleich,“ fasste schon der Klappentext des Bestsellers zusammen, was ja auch die Selbsteinschätzung der meisten Europäer war und bis heute ist. Im Gegensatz zu den USA, die bekanntlich aus purer Ölgier vor keinem Krieg zurückschrecken, versteht sich Europa als „Soft Power“, die Kraft ihres Vorbildes die Welt zu einem besseren Platz macht.

Was das Gebrabbel von Nachhaltigkeit und Ausgleich, von einer gerechteren Welt und der Überwindung alter Feindbilder in der Praxis bedeutet, durften die Libyer im Februar 2011 genauso erleben wie die Kosovaren Ende der 1990er-Jahre, als Herr Milošević sie auszulöschen im Begriffe war; was erst von der amerikanischen Luftwaffe gestoppt werden konnte.

Europas moralische Überlegenheit als „Soft Power“ zeigt sich damals wie heute vor allem darin, dass es Diktatoren, die an Europas Peripherie kleinere oder größere Blutbäder anrichten, nichts entgegenzusetzen hat als „den Ausdruck des Bedauerns“, vorgetragen vollkommen folgenfrei von irgendeinem mausgrauen Anzug in irgendeinem mausgrauen Korridor in Brüssel. Anstatt, wie von libyschen Diplomaten offen gefordert, eine Flugverbotszone über Libyen militärisch zu erzwingen, um wenigstens die Bombardierung der Zivilbevölkerung zu beenden, errichteten die Europäer eine Art Fluchtverbotszone – indem sie die Libyer so im Stich ließen, wie sie einst die Kosovaren im Stich gelassen hatten, ganz „der alte Kontinent als Hoffnungsträger für die Welt“ (Rifkin). Halt außer für jene Teile der Welt, die Hoffnung nötig hätten.

Europa verhält sich nicht anders als jene Passanten, die couragiert zur Seite schauen, wenn eine Jugendgang gerade jemanden öffentlich zu Tode prügelt. Es hat eben offenkundig ganz „vorbildliche Formen des Miteinanders“ (nochmal Rifkin) gefunden.

Nun ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, dass ein überalterter, sozialstaatlich versulzter und entsprechend risikoaverser Kontinent nicht die innere Kraft aufbringen kann, die eine robuste Verteidigung der eigenen Werte nun einmal benötigt.

Umso mehr, als das libysche Regime ja zu Zeiten der Finanzkrise auch gern als Retter und folglich seither auch als Hauptaktionär einer der größten europäischen Banken willkommen war; da überlegt man sich das mit der etwas unhöflichen No-fly-Zone gegen die Bomber des Herrn Miteigentümers schon mal genauer.

Ein „Friedensprojekt“ freilich – und als das verkauft sich EU-Europa ja –, das weder willens noch imstande ist, an seiner unmittelbaren Peripherie diesen Frieden notfalls auch zu erzwingen, ist ungefähr so sehr Friedensprojekt wie der fabelhafte Herr von Guttenberg ein Doktor ist.

Europa, ein „Hoffnungsträger für eine gerechtere Welt“? Hoffnung macht Europa: jenen noch verbliebenen Diktatoren, die nun hoffen können, ihre Völker auch weiter unbehelligt knechten zu können.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2011)

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