Ist es wirklich eine bürgerliche Tugend, seine eigenen Kinder zu bestehlen?

Die Politik hat nicht nur in Griechenland ruinöse Schuldenexzesse verursacht. Ist ja logisch, dass deswegen das „Primat der Politik über die Märkte“ die Lösung der Schuldenkrise ist.

Wenn ein Staat auf die Dauer mehr ausgibt, als er einnimmt, so bleibt früher oder später bekanntlich nur eine einzige, höchst triviale Lösung dieses kleinen Problems: mehr einnehmen (durch höhere Steuern) und weniger ausgeben (durch Verringerung staatlicher Leistungen), also im Ergebnis seine Bürger ärmer zu machen. Das versteht außer manchen Ökonomen jeder.

Darüber kann man, wie jüngst in Athen zuerst vorgeschlagen und dann zurückgezogen, ein Volk natürlich abstimmen lassen. Es wäre dies freilich eine Art Abstimmung über die Wirklichkeit gewesen, und die wird sich nicht per Mehrheitsvotum ändern lassen. Eine Verringerung ihres – betrügerisch herbeigeführt – unangemessen hohen Lebensstandards um mindestens ein Drittel wird den Griechen nicht erspart bleiben, ob sie den Euro aufgeben oder nicht: entweder als Konsequenz des notwendigen Sparkurses oder aber als Folge der einzigen logisch denkbaren Alternative dazu, nämlich der Staatspleite.

Es gibt deshalb im Grunde nichts, worüber die Griechen vernünftiger weise abstimmen könnten, sofern man unter „abstimmen“ die Wahl zwischen im Ergebnis unterschiedlichen Optionen versteht: genausogut könnte man über das Wetter im nächsten ägäischen Sommer ein Plebiszit abhalten lassen. Die Auswirkung auf die Lebenswirklichkeit des durchschnittlichen Griechen wäre vergleichbar.

Um so erstaunlicher ist, dass nun ausgerechnet Frank Schirmacher, Herausgeber der in wirtschaftlichen Dingen gemeinhin nicht unvernünftigen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), ein derartiges Votum zu einem dringend notwendigen demokratischen Hochamt hochjazzte: „Papandreou tut nicht nur das richtige, (...) er zeigt auch Europa einen Weg“. Ja eh, aber es ist der Weg mit dem Kopf voraus gegen die Wand der Wirklichkeit. „Sieht man denn nicht,“ klagt Schirrmacher , „dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?“.

Besser kann man das Elend der politischen Klasse bis tief in bürgerliche Schichten hinein nicht illustrieren als mit dieser absurden Frage. Denn Schirrmacher unterstellt ja implizit, nicht die Geldgeber Athens sollten in letzter Instanz über ihr Eigentum verfügen dürfen, wie es ihnen beliebt – etwa indem sie Kredit gewähren oder nicht, und zu welchen Konditionen – sondern der sogenannte „demokratische Prozess“ als letzter Instanz.

Ausgerechnet jener „demokratische Prozess“, der nicht nur Griechenland, sondern tendenziell auch Deutschland oder Österreich in maßlose Schuldenexzesse geführt hatte, soll nun das Primat über jene Märkte haben, mit deren Kredit diese Exzesse finanziert wurden: auf so eine verblasene Idee muss man erst kommen. Das ist ungefähr so, als würden die Abonnenten der „FAZ“ im Zuge eines „demokratischen Prozesses“ darüber abstimmen, ob sie für ihr Abo eigentlich zahlen wollen oder nicht.

Tatsächlich haben Ratingagenturen und andere Marktteilnehmer erledigt, woran der „demokratische Prozess“ spektakulär gescheitert ist, nicht nur in Griechenland: sie verhindern – ohnehin spät genug – im Wege steigender Kreditkosten, dass Regierungen und Regierte der Gegenwart ihren Kindern und Kindeskindern das letzte Stück Fleisch vom Teller fressen. Dies zu unterlassen, galt übrigens früher mal als bürgerliche Tugend.


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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2011)

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