Ein Universalgelehrter interpretiert die österreichische Geschichte

Si tacuisses: Ein Gespräch der „Zeit“ mit George Steiner verspricht ein geistiges Gipfeltreffen. Zu dem eine Fußnote erlaubt sei.

Promi-Interviews in den Feuilletons großer Blättern ähneln manchmal einem Gottesdienst. Der einzige Unterschied ist, dass der Angebetete kein Märtyrer, sondern ein lebender Meisterdenker ist. Philosophen eignen sich dafür besonders: Prophetisch geben sie Antwort auf letzte Fragen. Wie ein Andachtsbild ziert ihr Porträt den Artikel. Die journalistische Liturgie beginnt mit Weihrauch und Gloria, setzt sich fort im gemeinsamen Glaubensbekenntnis und endet mit der Danksagung. Zwischendrin ist die Predigt.

Diesen sakralen Ritus verspürte man jüngst in einem Gespräch, das die Hamburger „Zeit“ mit dem Universalgenie George Steiner führte. Die Andacht fand „hinter rotem Backstein“ statt, in Cambridge, „wo Europas Geisteselite wohnt“. Unter ihr lebt auch George Steiner. Er erscheint zum Interview „von seinem alten Hund begleitet“. Der Denker tritt also auf wie Rochus von Montpellier, einer der populärsten Heiligen überhaupt, der meist mit einem Hund abgebildet ist.

Zum Unterschied vom Pestheiligen, über den man kaum Gesichertes weiß, ist die Lebensgeschichte von George Steiner bekannt. Er wurde 1929 als Sohn wohlhabender österreichischer Eltern in Paris geboren und besuchte dort ein Lycée. Nach der Emigration seiner Eltern studierte und lehrte er an den renommiertesten Universitäten der Alten und Neuen Welt. Heute ist er ein polyglotter Denker mit Scharfsinn und Stil: „Zwei Sessel vor dem Kamin stehen bereit“, verrät die „Zeit“, „der Hund verliert sich in den Tiefen des Hauses.“ Während man um das arme Tier bangt, stellt die Redakteurin ihre Frage: „Ihr Vater wusste auch, dass Juden in Wien keine Zukunft mehr haben werden und ist 1924 zum ersten Mal emigriert. Das war sehr vorausschauend.“

George Steiner: „Aber bitte, der Herr Hitler war ein Österreicher. Der tiefe Antisemitismus kommt von dort.“ Hier möchte man einwenden, dass Hitlers österreichischer Geburtsort ebenso wenig zu leugnen ist wie die Tatsache, dass seine politische Karriere in Bayern begann. Man wäre auch neugierig, ob im Lehrplan von Steiners Pariser Lycée etwas von Édouard Drumont stand, dem Franzosen, der judenfeindliche Pamphlete schon vor Lueger verbreitete. Doch Steiner weiß zu loben: „Ich habe jetzt zwar seit Jahren die besten Beziehungen zur deutschen Kultur“, sagt er, nur um hinzuzufügen „aber ich weigere mich, in Österreich Vorlesungen zu halten.“

Hmm. Hatte nicht George Steiner eine Fulbright-Professur in Innsbruck? War es nicht George Steiner, der 1994 die Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele gehalten hat? Gut, die „Zeit“ kann nicht alles wissen. Und so darf Steiner über Österreich fortfahren: „Dort ist der Neonazismus von einer Virulenz! Ich glaube, der Anschluss wäre dort noch immer sehr willkommen.“ Hier immerhin rafft sich die Interviewerin zu einer Gegenfrage auf: „Warum sollte gerade Österreich besonders antisemitisch sein?“ George Steiner: „Das ist ein schwarzes katholisches Trauma, ich habe keine einfache Erklärung.“ Die Interviewerin auch nicht. „Ihre Bildung ist für uns Nachkriegskinder beängstigend“, seufzt sie noch – wie wahr!

Unsere beängstigende Unbildung hindert uns daran, über die fließenden Grenzen zwischen journalistischer Bewunderung und kritiklosem Heiligendienst nachzudenken. Unsere Unbildung sagt uns auch, dass selbst berühmte Vorläufer von George Steiner nicht frei von Flüchtigkeitsfehlern waren. Aristoteles etwa. Er behauptete, dass Frauen weniger Zähne als Männer hätten. Auf die Idee, dies nachzuzählen, kam er ebenso wenig wie George Steiner bei den österreichischen Anschlussbefürwortern. Oder Immanuel Kant: Der ließ sein Schlafzimmer verdunkeln, weil er überzeugt war, dass Wanzen sich nur dann vermehren, wenn Sonnenstrahlen in das Schlafgemach eindringen.

Hoffen wir, dass ein Sonnenstrahl der Erkenntnis in das Leben des großen George Steiner eindringt: Vielleicht findet sich jemand, der ihn nach Salzburg, Seggauberg, Lech, Wien oder Alpbach einlädt. Er braucht keine Angst zu haben. Anschlussbefürworter sind dort, wenn überhaupt, ganz sicher in der Minderheit.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001 Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er Vorsitzender des Österreichischen Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2014)

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