Sir John Franklins letzte Fahrt – oder: Die Freude am Lesen

In meiner Schulzeit wurden lesende Kinder wenig schmeichelhaft Leseratten genannt. Die Liebe zum Buch und zum Erzählen von Geschichten blieb dennoch.

Vor einigen Tagen stolperte ich über eine Zeitungsnotiz: Kanadischen Forschern sei es gelungen, auf dem Meeresgrund ein Schiffswrack der Franklin-Expedition zu orten. Die Nachricht weckte in mir Erinnerungen an jene Expeditionsberichte, die ich als Jugendlicher verschlungen und weitererzählt hatte – eine Leidenschaft, der ich bis heute treu geblieben bin. Sir John Franklin nimmt darin einen festen Platz ein.

Fast 60 Jahre war der Mann, als er von der britischen Admiralität den Auftrag zur Erforschung der Nordwestpassage erhielt. Vielen erschien der untersetzte, schwerhörige Franklin für eine solche Herausforderung zu alt. Für andere war er ein Polarheld: Zwei frühere Expeditionen in die Arktis hatte er nur knapp überlebt. Die Leserinnen und Leser kannten seine Berichte darüber.

Franklin war „the man who ate his boots“ – um nicht zu verhungern, hatte er Flechten, von Füchsen abgenagte Rentierknochen und seine Stiefel gegessen. Nun also, wir schreiben das Jahr 1845, stattete man ihn mit zwei Dreimastern aus, die eigens für die Arktis präpariert waren. Die Rümpfe waren verstärkt, Proviant für drei Jahre gebunkert und ein umgebauter Eisenbahnmotor mit 20Pferdestärken eingebaut worden. Zwei Drehorgeln und dreitausend Bücher sollten für Unterhaltung und Erbauung sorgen.

So ausgestattet brach Franklin mit 129 Mann auf die Suche nach einer nördlichen Verbindung zwischen dem Atlantik und dem Pazifik auf. Seine Reise aber geriet zum Desaster. Er selbst verstarb im zweiten Jahr der Reise, sein Grab ist unbekannt. Seine Schiffe, Erebus und Terror, wurden Opfer einer „kleinen Eiszeit“ und saßen selbst im arktischen Sommer fest. Nach 19 Monaten im Eis beschloss die Mannschaft, zu Fuß den Weg zurück zu wagen. So schleppten die Männer ihre Beiboote, die mit Konserven, Schokolade und dem Tafelsilber der Offiziere beladen waren, südwärts.

In London entschloss sich die britische Admiralität trotz vieler Appelle erst spät, Suchexpeditionen nach den Verschollenen auszuschicken. Diese fingen Füchse, denen sie Halsbänder mit Kupferkapseln, die Hinweise auf Depots enthielten, umhängten, ließen Ballons und Drachen steigen und machten sogar Versuche mit Brieftauben. Von Franklin aber fand man keine Spur. Neun Jahre nach seinem Aufbruch teilte die britische Admiralität schließlich Lady Franklin mit, dass man die Namen der Mitglieder der Expedition aus den Büchern der Marine gestrichen habe.

Dann aber trafen erste Nachrichten aus dem hohen Norden ein. Inuit berichteten einem schottischen Arzt und Polarforscher, dass sie vor vielen Jahren Überlebende der Expedition gesehen hätten und dass sie später auf ein letztes Lager von Franklins Männern gestoßen wären.

Aus dem Zustand anderer Leichen und dem Inhalt der Kochtöpfe habe man erkannt, dass es unter den Verhungernden zu Kannibalismus gekommen sei. Dieser Bericht führte zu einer Welle der Empörung, an der sich auch Charles Dickens beteiligte: Den Berichten von Eskimos dürfe man nicht trauen. Briten würden auch in letzter Verzweiflung nicht zu Anthropophagen. Wenn schon, dann hätten die Inuit selbst Franklins Männer verspeist.

Das genaue Schicksal von Franklin und seinen Männern blieb ungeklärt. Der Krimkrieg war ausgebrochen, und man hatte andere Sorgen als die Suche nach Vermissten in der Arktis. Elf Jahre nach dem Aufbruch Franklins fand man Skelette und eine Blechbüchse mit der kurzen Nachricht von Franklins Tod.

Der „Mann, der seine Stiefel aß“ wurde zum Mythos, über den etwa ein Dutzend Romane (darunter Sten Nadolnys „Die Entdeckung der Langsamkeit“) verfasst wurden. Franklins britische Zeitgenossen beschrieben sein Schicksal im „kalten Fegefeuer der Arktis“ als „fine tragedy“ und „good disaster“.

Dass die Überlegenheit der viktorianischen Zivilisation in Kannibalismus geendet hatte, verschwieg man.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2014)

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