Steine reden

Von den Statuen auf der Parlamentsrampe könnte man einiges lernen.

Dass drin so wenig Einigkeit herrscht, muss am Eingang liegen. Dem ins Parlament nämlich. Seit Jahrzehnten betreten Parlamentarierinnen und Parlamentarier das Hohe Haus nicht durch ein gemeinsames Tor, sondern durch die Pforten ihrer Parteien. Auch der neue Besuchereingang im Rücken der Pallas Athene ist mehr für das Volk da als die Abgeordneten. Dort jedenfalls, wo der Erbauer des Parlaments den Zugang vorgesehen hat, über die Rampe mit den Statuen, kann niemand das Gebäude betreten.

Dabei könnte man von den Statuen einiges lernen. Mindestens so viel wie von den Rossebändigern vor dem Parlament, welche zur Zähmung der Leidenschaften (oder des Volkes?) auffordern, und der Pallas Athene, die zur Vernunft mahnt, aber auch die Göttin des Kriegs ist. Die sechs Steinmänner auf der Parlamentsrampe sitzen unbeachtet da. Kaum ein Tourist fotografiert sie. Vielleicht, weil sie von Beruf keine Götter waren, sondern nur Menschen. Genauer gesagt: Historiker. Könnten sie reden, was würden sie den Damen und Herren Abgeordneten erzählen?

Thukydides vielleicht von der neutralen Insel Melos. Als die vom übermächtigen Athen unterworfen wurde, beklagten ihre Bewohner den Bruch aller Verträge und guten Sitten. Die Athener aber teilten ihnen mit: Recht könne nur zwischen gleich Starken gelten. Bei ungleichen Kräfteverhältnissen tue der Starke, was er könne, und erleide der Schwache, was er müsse. Thukydides würde erzählen, dass die Athener zuerst die Männer aus Melos hinrichteten und dann Frauen und Kinder versklavten, aber auch, wie der Peloponnesische Krieg endete: mit der Niederlage Athens. Jede Macht endet, wenn sie die Zahl ihrer Feinde ins Unendliche vermehrt. Dafür haben Machiavelli und Hobbes, Kant, Hegel und Nietzsche den Melierdialog gerühmt.

Neben Thukydides sitzt Herodot, der Lieblingshistoriker der Antike. Raunt er den Volksvertretern sein „Pân esti anthropos symphore“, „Der Mensch ist ein Spielball des göttlichen Schicksals“, zu? Tacitus, der Schweiger: Würde er den Abgeordneten einen Satz aus den Annalen vorlesen? Etwa: „Nichts unter der Sonne ist so unbeständig und vergänglich wie der Ruf der Macht, wenn sie sich nicht auf eigene Kraft stützt.“ Merkfähigeren könnte er noch eine Erkenntnis mitgeben, etwa „Corruptissima re publica plurimae leges“ – „Je verdorbener ein Staat, desto mehr Gesetze hat er.“

Die Herren hätten was zu sagen, verfügte man über das geeignete Hörrohr. So aber sitzen sie einsam da. Die Abgeordneten huschen unter ihnen vorbei zum kaudinischen Joch ihrer Fraktionseingänge. Da kennt man sich aus. Die Geschichtsschreiber auf der Parlamentsrampe aber schweigen. Sie sind Einsamkeit gewohnt. Und finden sich mit dem ab, was Robert Musil einmal über Statuen schrieb: „Das Auffallendste an Denkmälern ist, dass man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler...“

Kurt Scholz ist Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien und war langjähriger Wiener Stadtschulratspräsident.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2008)

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