Das Gerücht als Mittel der Politik: Allgegenwärtig, widerlich und uralt

Häme und falsche Andeutungen sollen die Integrität eines Konkurrenten untergraben. Immer mehr integre Menschen meiden deshalb öffentliche Positionen.

Der politische Wettbewerb kennt feine und weniger feine Methoden. Zu den ersteren zählen die Aufzählungen eigener Leistungen. Diese rufen ein Gähnen hervor. Mehr Pfeffer hat die Kritik am Gegner. Nennt man ihn „Staatsfeind“, erregt man Aufmerksamkeit. Am pikantesten aber ist die Methode, die Integrität eines Konkurrenten durch Andeutungen zu untergraben. Das Gerücht als Mittel der Politik ist allgegenwärtig, unsympathisch und uralt.

Immer schon war das Leben der Regierenden von Kolportage begleitet. Jede historische Persönlichkeit wurde unter der Gürtellinie diskutiert. Nicht einmal der große Tacitus, ein Geschichtsschreiber und Patrizier, war frei davon. Er verachtete die Cäsaren als entartete Emporkömmlinge.

Suetons Herrscherbiografien sind von Hoftratsch durchtränkt. Für die christlichen Geschichtsschreiber des Mittelalters war Nero ein Glücksfall: Sie stilisierten ihn zum Antichristen und Brandstifter – zu einem perversen Clown, der wohlgefällig die nackten Gliedmaßen seiner ermordeten Mutter musterte und dazu Wein trank.

Die Herrscherfrauen waren noch schlechter dran. Messalina etwa. Genüsslich gibt Plinius das Gerücht wieder, die Kaisergattin habe den Wettstreit mit einer römischen Kurtisane gesucht und gewonnen: „Superavit quinto atque vicesimo concubitu“ – die Dirne habe nach 25 Liebhabern aufgegeben, Messalina nicht. Die Frau als Sexmonster: Eine Männerfantasie, wiedergegeben als Anekdote, genährt aus Angst. Katharina die Große sei beim Liebesspiel von ihrem Pferd erdrückt worden, munkelten die russischen Adeligen über die deutschstämmige Zarin. In Wirklichkeit war sie an einem Schlaganfall gestorben.

Besonders beliebt war es, Frauen der Blutschande zu bezichtigen. Hat sie zugetroffen? Nicht bei Marie Antoinette. Sie wurde vom Revolutionstribunal des Inzests mit ihrem Sohn beschuldigt – eine tödliche Trias aus Fantasie, Hofklatsch und blutiger Revolte. Marie Antoinette wurde in zahllosen pornografischen Darstellungen als Nymphomanin abgebildet. Nachgewiesen ist lediglich ein einzelner Liebhaber.

Das Gerücht ist untrennbar an die Mächtigen gebunden. Der Borgia-Papst Alexander VI. führte kein heiligmäßiges Leben. Aber hat es das berüchtigte Kastanienbankett wirklich gegeben? Der Papstsohn habe es im Apostolischen Palast ausgerichtet, liest man im Tagebuch des Johannes Burchard.

Bis heute sind sich die Historiker uneins, ob der Bericht eine spätere Einfügung ist. „Quinquaginta meretrices honeste“, 50 ehrbare Dirnen, hätten unter den Augen des Papstes am Boden kriechend verstreute Kastanien gesammelt. „Schließlich wurden“, berichtet schaudernd der päpstliche Zeremonienmeister, Preise für jene Herren ausgesetzt, „qui pluries dictas meretrices carnaliter agnoscerent“, die sich also am öftesten mit den genannten Damen fleischlich vereinigen konnten. Nur eine Wunschvorstellung? Oder doch eine geschichtliche Tatsache? Die Story begleitet Alexander VI. jedenfalls bis heute.

Kein Politiker des 20. Jahrhunderts war von Gerüchten verschont. Als die Polioerkrankung Franklin D. Roosevelts unübersehbar wurde, deuteten seine republikanischen Gegner sie als Folge einer Geschlechtskrankheit, der unweigerlich ein geistiger Verfall folgen müsse: ein Rufmord. Bruno Kreisky, dem die Vernachlässigung seines Bruders und eine Konservenfabrik angedichtet wurden, kam da vergleichsweise noch glimpflich davon.

Das Gerücht ist die Waffe des Unterlegenen. Scheinbar im Besitz eines Geheimwissens und der reinen Moral, will er „die da oben“ der Verkommenheit überführen. Was bedeutet das für die Politik? Wer sich für die Menschen erhebt, sagte Ferdinand Lassalle, muss den Becher der Verleumdung bis zur Neige leeren. Vielleicht ist das der Grund, weshalb immer weniger erfolgreiche Persönlichkeiten bereit sind, öffentliche Verantwortung zu übernehmen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit
Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.