Gemeinsam oder einsam: Warum der Westen zusammenhalten muss

Thanksgiving, Chanukka und Weihnachten gehen heuer ineinander über. Das sollte Anstoß für den Westen sein, sich gemeinsamer Werte bewusst zu werden.

Vor 30 Jahren war Thanksgiving oder Chanukka in Österreich nur einigen wenigen Eingeweihten ein Begriff. Sogar als in den 1980er-Jahren in amerikanischen Städten zum ersten Mal der achtarmige Chanukka-Leuchter neben dem Weihnachtsbaum aufgestellt wurde, war das eine Sensation.

2013 jedoch gab es sogar in Wien bereits zahlreiche Thanksgiving-Dinner, ist das Entzünden des Chanukka-Leuchters am Wiener Stock-im-Eisen-Platz inmitten des vorweihnachtlichen Einkaufstrubels bereits zur Tradition geworden, und vor dem Demel gab es sogar ein Chanukka-Punschtrinken. Traditionalisten aller Seiten geht das zu weit. Sie befürchten einen schrecklichen Mischmasch von Religionen und Kulturen.

Darüber lässt sich diskutieren, aber dahinter steht ein viel wichtigerer Punkt: Die Gesellschaften des Westens mögen zwar durchaus ihren unterschiedlichen Traditionen, Kulturen und Sprachen frönen, aber sie müssen sich ihrer gemeinsamen Werte wie Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Gleichberechtigung bewusster werden – und vor allem auch für deren Erhaltung gemeinsam kämpfen.

Auch wenn diese Aussage vielen als Plattitüde erscheinen mag, die Wahrheit ist: Unser Wertesystem ist bedroht, es steht viel auf dem Spiel.

China wird in zehn bis 15 Jahren zur größten Wirtschaftsmacht der Welt werden. Im Jahr 2050 wird Chinas Wirtschaft doppelt so groß wie jene der USA sein. Die Erwartung oder zumindest Hoffnung, dass sich China bis dahin „verwestlicht“ hat, mag sich als Illusion erweisen. Martin Jacques, ein britischer Ökonom und China-Kenner, bezeichnet China als eine völlig andere Zivilisation.

China ist kein Nationalstaat wie die westlichen Staaten, entstanden in den vergangenen 100 bis 200 Jahren, sondern ein „Zivilisationsstaat“ mit einem viel älteren Satz an Werten und Traditionen, die von 90 Prozent der Bevölkerung – den Han-Chinesen – getragen werden. Die Einheit des Staates ist von höchster Bedeutung, und der Staat ist wie das Oberhaupt einer jeden Familie. China agiert in Wirklichkeit wie ein gewaltiger Konzern und nicht wie ein politisches Gebilde. Ständig werden neue Konzepte und Strategien ausprobiert, es gibt eine Kaderschmiede, die wie eine gewaltige Human-Resources-Abteilung funktioniert – alles im Dienste einer noch besseren Performance bei gleichzeitigem Machterhalt der Konzernspitze.

Die chinesische Führung träumt den American Dream – aber ohne Freiheit und Eigenverantwortung seiner Bürger. Dennoch sind 85 Prozent der Chinesen zufrieden mit ihrer Situation, und 70 Prozent geben an, dass es ihnen besser geht als vor fünf Jahren. In den USA sind es gerade einmal 26 Prozent und in Europa noch um einiges weniger.

Wo ist der Westen? Europa wird vorgeworfen, es schlafwandle ins Vergessen. Zbigniew Brzeziński, einer der bedeutendsten außenpolitischen Vordenker der USA, meinte vor Kurzem, Europa handle so, als ob es sein wichtigstes politisches Ziel sei, zum bequemsten Altersheim der Welt zu werden.

Europa wird von den Amerikanern als schwach, zerstritten, unsolidarisch, illoyal und zögerlich wahrgenommen, als Union, die sich hauptsächlich nur um die Bewältigung der Eurokrise kümmere. Aber auch in den USA hat sich die Stimmung dramatisch geändert: 2007 hatte noch für 40 Prozent der Amerikaner Außenpolitik Priorität, nun gilt das gerade noch für sechs Prozent.

Der wirtschaftlichen, vor allem aber der politischen Expansion Chinas kann nur mit Geschlossenheit des Westens wirksam begegnet werden. Ganz zu schweigen von der unsteten und noch für lange Zeit gefährlichen Entwicklung der arabischen Welt heraus aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Tritt in diesem Umfeld globaler Entwicklungen der Westen nicht geeint und stark auf, dann wird sich zunehmend ein machtpolitisches Vakuum herausbilden, in das die Mächte des Despotismus, der Anarchie und der Unfreiheit eindringen werden.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, Geschäftsführer der Wiener Psychoanalytischen Akademie,
geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group sowie
Mitherausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2013)

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