Wenn das Böse es schafft, in unser Kontrollzentrum einzudringen

Das Handeln des Kopiloten des abgestürzten Germanwings-Jets erscheint uns unverständlich. Dabei sagt uns das Geschehen viel über das menschliche Wesen.

Was tun wir nicht alles, damit das Böse nicht in unser Kontrollzentrum eindringen und davon Besitz nehmen kann. Die Tür ist gepanzert – und auch ein sonstiges gewaltsames Eindringen oder auch nur Einschleichen wird durch komplizierte Zugangssysteme verhindert.

Eine Denkmöglichkeit bleibt jedoch unberücksichtigt: Was tun, wenn sich das Böse bereits im Innern befindet und sich dann genau jener Verteidigungsmechanismen bedient, die eigentlich zu dessen Abwehr eingerichtet wurden? Man könnte fast keine bessere Beschreibung unseres Umgangs mit den sogenannten Abgründen der menschlichen Seele finden. Denn das Böse, der Hass, das Pathologische, das psychisch Kranke sind mitten unter uns.

Zahlreiche Psychiater und Psychologen haben bereits schlüssige Argumente für das Vorliegen einer schweren Depression mit einem damit verbundenen erweiterten Suizid. Andere wieder vermuten eine klassische Psychopathie hinter dem Agieren des Kopiloten des zerschellten Airbus.

Eines aber ist sicher: Nicht nur in der Luftfahrt müssen wir uns viel bewusster mit der menschlichen Psyche in ihrer Gesamtheit, also auch mit ihren Störungen und Erkrankungen und Schattenseiten auseinandersetzen. Wenn wir uns heute vor allem über die Psychopathie der Islamisten oder jene eines norwegischen Massenmörders empören, scheinen wir zu vergessen, wie schnell auch hierzulande, mitten unter und in uns Hass und mörderische Wut lauern, die mitunter gewalttätig ausbrechen können. Bekanntlich reicht da eine bestimmte individuelle Pathologie aus – oder auch gesellschaftliche Prozesse, die den Ausbruch solcher Emotionen zulassen oder sogar fördern.

Andererseits: Rund zehn Prozent der Bevölkerung befinden sich laufend wegen psychischer Leiden in Behandlung. Bei der großen Mehrheit dieser Patienten werden Depressionen unterschiedlichen Schweregrades und Angststörungen diagnostiziert. Fast alle von ihnen bekommen Psychopharmaka verschrieben. In der Zwischenzeit ist aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen jedoch erwiesen, dass dies in vielen Fällen die falsche Therapie ist.

Wenn sich ein Pilot nach Abschluss seiner Ausbildung, zwar jährlich medizinisch untersuchen lassen muss, dabei aber keinerlei psychologische Begutachtung stattfindet, stellt dies eine gefährliche Realitätsverweigerung dar. Warum sollte der Anteil an Depressiven, Alkoholsüchtigen oder an sonstigen psychischen Störungen Leidenden unter den Piloten geringer sein als in der Gesamtbevölkerung?

Ein weiteres Phänomen ist die fast sintflutartige Zunahme der Burn-out-Diagnosen; in etwa 25 Prozent sind es derzeit allein in Deutschland. Dabei versteckt sich dahinter zumeist ebenso eine depressive Störung. Piloten sind davon sicher nicht ausgenommen, vielleicht gibt es bei ihnen sogar eine Häufung. Bevor sie sich jedoch entschließen, nie wieder ein Flugzeug zu besteigen, sollten sie bedenken, dass ja die Unfallrate demgegenüber auffallend gering ist.

Und warum das? Leichte bis mittlere depressive Störungen und Erkrankungen sind in der überwiegenden Mehrzahl und im Prinzip gut behandelbar – wenn sie denn wahrgenommen werden und die Erkrankten nicht einfach nur mit Psychopharmaka abgespeist werden. Daher können wir auch mit Piloten leben, die an einem solchen Krankheitsbild leiden, ebenso wie mit Ärzten, Managern oder sonstigen Personen in verantwortungsvollen Positionen.

Unter einer wichtigen Voraussetzung: Unsere Gesellschaft darf vor der Psyche der Menschen und ihren Störungen nicht die Augen verschließen, sie muss einen professionellen Umgang damit gewährleisten. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass kranke Piloten eine Therapie mit guten Heilungschancen erhalten beziehungsweise jene viel besser identifiziert werden, die nichts mehr in einem Cockpit verloren haben; auch nicht unter Aufsicht einer Flugbegleiterin.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2015)

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