Die Solidarität zur Gruppe darf nicht die Loyalität zum Staat übertrumpfen

Die nach Wahlen immer wichtiger werdenden Wählerstromanalysen sind eine zweischneidige Sache. Vor allem dann, wenn mit den Datensätzen Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Als ich vor mehr als zwei Wochen von journalistischer Seite gefragt worden bin, wie ich bei der Volksbefragung am 20.Jänner über Berufsheer oder Wehrpflicht abstimmen werde, habe ich zu verstehen gegeben, dass das Wahlgeheimnis ein hohes Gut darstellt, das ich in Anspruch nehme. Es ist das gute Recht jeder wahlberechtigten Person, über ihre Entscheidung bei einer Abstimmung zu schweigen.

Aus eben diesem Grund ist in meinen Augen die nach Wahlen immer mehr ins Zentrum der Berichterstattung gerückte Veröffentlichung von Wählerstromanalysen eine zweischneidige Angelegenheit. Es ist klar, dass die Hochrechnung von Wahlergebnissen auf solchen Wählerstromanalysen beruht: Gerhart Bruckmann war da in Österreich ein Pionier der ersten Stunde; Erich Neuwirth hatte hierin nicht nur eine Perfektion erreicht, die der eines Zauberers nahekommt, sondern er konnte die Prinzipien dieser Rechnungen auch höchst einleuchtend darlegen. Die wissenschaftliche Akkuratesse dieser Verfahren und ihre beeindruckende Wirksamkeit sind unbestritten.

Heikel allerdings ist es, wenn in Medien diese Datensätze dazu verwendet werden, einzelne Gruppen der Bevölkerung gegeneinander auszuspielen: Wie haben die Jungen, wie die Alten abgestimmt? Wie die Frauen und wie die Männer? Wie die auf dem kaum besiedelten Land, wie die in den Ballungsräumen, wie die in der Großstadt? Wie die Akademiker, wie die schlecht Ausgebildeten? Wie die, deren Vorfahren seit Jahrhunderten hier ansässig waren, wie jene, die man mit dem garstigen Wort vom Migrationshintergrund punziert?

Ist es schon vor der Wahl hässlich genug, wenn zum Zweck des Stimmenfangs Emotionen angeheizt werden, die sich nicht selten gegen einzelne Gruppen richten, sollte es wenigstens nach der Wahl gute Sitte sein, all das als ungesagt im Orkus verschwinden zu lassen und keine kantige Abgrenzung gegenüber anderen Bürgern des gleichen Staates zuzulassen.

Dies könnte man trotz breitgetretener Wählerstromanalyse dann erreichen, wenn man Respekt gegenüber der Haltung eines Angehörigen einer anderen Gruppe einfordert, von der man weiß, dass in ihr mehrheitlich gegen die eigenen Intentionen gestimmt worden ist. Viel einfacher, als diesen Respekt einzufordern – so löblich dieses Ansinnen sein mag –, ist es, diesen Gruppengegensätzen in der Berichterstattung nur marginalen Raum einzuräumen: Ja, es gibt Wählerstromanalysen, politisch Interessierte sollen sich darüber detailliert informieren können. Aber für die breite Allgemeinheit möge dies Sache der Experten bleiben.

Ein Staat ist nämlich nur dann in sich gefestigt, wenn sich alle seine Angehörigen als Individuen verstehen, die sich in ihren Entscheidungen – insbesondere bei geheimen Wahlen – völlig frei von jenen gesellschaftlichen Gruppen fühlen, denen sie (vielleicht nur scheinbar) angehören. Länder, in denen die Solidarität zur jeweiligen Gruppe die Loyalität zum Staat übertrumpft, drohen in Zeiten von Krisen in prekäre politische Zustände zu geraten.

Hier ist verantwortungsbewusster Journalismus gefordert. Er könnte damit beginnen, dass die Medienleute verzichten, sogenannte Prominente oder typische Vertreter irgendwelcher Gruppen mit der Frage zu belästigen, wem sie denn bei der ins Haus stehenden Wahl ihre Stimme geben werden.


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Zum Autor:

Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des Math.space im Quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2013)

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