Es ist schier unglaublich, dass immer noch eingefahrene Klischees und unausgegorene Ideen die schon Jahrzehnte währende Schuldebatte beherrschen.
Als ich es las, wollte ich meinen Augen nicht trauen: Ganz ernsthaft wurde die Idee ins Spiel gebracht, den Zugang zum Gymnasium für Zehnjährige vom Bestehen einer Aufnahmeprüfung abhängig zu machen. Erinnerungen an meine eigene Aufnahmeprüfung vor einem halben Jahrhundert wurden wach:
Ich kam aus einer kleinen Stadt in Niederösterreich allein nach Wien und hatte eine zweitägige Prüfung: schriftlich am Montag und mündlich am Dienstag. Die Zeit dazwischen verbrachte ich bei einem Bekannten meiner damals schon verwitweten Mutter, die selbst schwer krank war und einige Monate später starb. Ich kenne sogar noch die Namen der mich prüfenden Professoren: Lothar Mandl, der – wie ich später erfuhr – ein eminenter Biologe war, in Mathematik und Walter Fangl, damals österreichweit bekannt als Leiter eines Englischsprachkurses im Fernsehen, sowie Josef Mourek, der Erziehungsleiter des Internats, in Deutsch.
Einige Szenen des Prüfungsgeschehens sind in meinem Gedächtnis tief verankert. Das Ganze war naturgemäß sehr aufregend. Sicher habe ich mehrfach gepatzt und verdanke es nicht zuletzt dem Wohlwollen der Professoren, dass ich die Prüfung bestand und Aufnahme ins Gymnasium fand.
Es war eine weise Entscheidung der Regierung unter Bruno Kreisky, Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium abzuschaffen. Sie waren künstlich errichtete Stolpersteine. Sie hinderten manches begabte Kind, das am Prüfungstag sein Licht unter den Scheffel stellte und dessen schlummernden Talente die Lehrer übersahen, einen Weg zu beschreiten, den es sonst hätte locker bewältigen können.
Erstaunt war ich auch über den Vorschlag, die Zahl der Gymnasien drastisch zu verkleinern: Sie sollen künftig Eliteschulen sein. Wie aber das Wort „Elite“ zu verstehen ist, bleibt im Dunkeln. Von der Förderung besonderer Begabungen war die Rede, namentlich Begabungen in Sprachen und in Musik.
Um nicht missverstanden zu werden: Niemand wird sich dem Gedanken verschließen, musikalisch oder sprachlich talentierte Kinder in der Schule anzuspornen, ihre Anlagen möglichst gut zu entwickeln. Aber was ist zum Beispiel mit den mathematisch begabten Kindern oder jenen, die den klaren naturwissenschaftlichen Blick entwickeln können? Sollte ihnen das „Gymnasium“ (das es in seiner klassischen Bedeutung ohnehin kaum mehr gibt) verwehrt sein?
Es ist schier unglaublich, dass immer noch eingefahrene Klischees und unausgegorene Ideen die schon Jahrzehnte währende Schuldebatte beherrschen. Zugleich bestätigt die verfahrene Diskussion, dass die Idee einer von Ideologien überfrachteten staatlichen Steuerung des Schulbetriebs in die Irre führt.
Vernünftig wäre es, würde sich der Staat vom Schulalltag weitgehend zurückziehen. Er schreibt bloß vor, welche unabdingbaren Kenntnisse und Fähigkeiten die Kinder mit zehn, die Jugendlichen mit 14 oder 16 Jahren haben sollen, um ihre Zukunft meistern zu können. Wie dies die Schulen bewerkstelligen und welche – möglichst variantenreiche – Zusatzangebote sie bieten, ist allein Angelegenheit der einzelnen Schulen. Ihre Direktion und das Lehrerkollegium haben dafür vor den Eltern im Speziellen und vor der Gesellschaft im Allgemeinen geradezustehen.
Statt punktuelle Aufnahmeprüfungen abzuhalten, wäre es sinnvoller, wenn alle Kinder für ein paar Tage während des Schuljahres den typischen Unterricht an der künftigen Wunschschule erleben und probeweise mitmachen. Danach kann man im Gespräch mit ihnen und ihren Eltern abwägen, ob die Schulwahl richtig ist oder überdacht werden sollte.
Nicht Schnitte, sondern schleifende Übergänge, stets korrigierbar, würden am besten dazu beitragen, der Veranlagung jedes Kindes zu entsprechen. Wir brauchen eine bunte Palette von Schulen, wir brauchen einen Strauß von Bildungsangeboten, und keines von ihnen elitärer bewertet als das andere.
E-Mails an:debatte@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2013)