100 Jahre nach der Katastrophe: Zu spät für verbrämte Wertungen

Bei so fernen Ereignissen sind heutige moralische Urteile, ob die Akteure damals richtig oder falsch gedacht, gesprochen, gehandelt haben, völlig fehl am Platz.

Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergesslich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche, muss ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken, die ich damals in Baden bei Wien verbrachte.“

Mit diesen Worten leitet Stefan Zweig in seiner „Welt von gestern“ das Kapitel über „die ersten Stunden des Krieges von 1914“ ein. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, die uns, fast auf den Tag genau 100 Jahre später, so fern geworden ist wie Karthago. Nicht umsonst sieht man in Hundert-Jahre-Jubiläen eine markante Zäsur: Mehr als drei Generationen stehen zwischen uns und der damaligen Epoche. Lebendige Erinnerung an sie gibt es nicht mehr. Was uns von der Welt von gestern geblieben ist, sind Zeugnisse längst Dahingegangener.

Umso befremdlicher mutet die gegenüber der „Presse“ erhobene Behauptung des Historikers Dragoljub Živojinović von der Serbischen Akademie der Wissenschaften an, wonach „für alle Zeiten“ klar sei, dass Serbien keine Schuld am Attentat von Sarajewo und damit am Ersten Weltkrieg trage. Was hat im historischen Kontext das Wort „Schuld“ zu suchen, möchte man ihn verdutzt zurückfragen. Schuld nagt am Gewissen des Einzelnen, der seine Untat nicht mehr ungeschehen machen kann, an ihr verzweifelt oder Sühne sucht.

Aber „Seele“ und „Gewissen“ drohen als Wörter verloren zu gehen – dementsprechend zieht man dem Titel „Schuld und Sühne“ von Dostojewskis Roman heutzutage lieber „Verbrechen und Strafe“ vor: Schuld und Sühne zielen auf die Existenz des Individuums, um Verbrechen und Strafe hingegen hat sich die Gesellschaft zu kümmern. Es ist kurios: Im gleichen Maß, wie der Existenzialismus verblasst, punzieren unbedarfte Historiker wie Herr Živojinović geschichtliche Ereignisse mit dem Wort „Schuld“, das dort nichts verloren hat.

Nicht über Schuld sollte man im Zusammenhang mit Geschichte sprechen, sondern von den Interessen der einzelnen Akteure, von den Ursachen der Umwälzungen, von den Anlässen der Ereignisse und von deren Folgen und Auswirkungen. Solange diese Wirkungen noch heute Lebende direkt betreffen, darf ihnen niemand verwehren, ihr Urteil über die Verursacher zu fällen.

Aber bei Geschehnissen, die 100 Jahre zurückliegen, löst sich die Kohärenz von Ursache und Wirkung völlig auf: Weder der greise Kaiser in Schönbrunn, weder das ermordete Erzherzogspaar, noch der Attentäter von 1914 zeichnen für irgendetwas von heute verantwortlich. Viel zu viel hat sich dazwischen ereignet. Moralisch verbrämte Wertungen, ob die Akteure richtig oder falsch gedacht, gesprochen, gehandelt haben, sind fehl am Platz.

Das Einzige was bleibt, sind Dokumente von einst, die uns in eine fremde Welt verführen, die wir nie völlig verstehen werden. Ob es Dokumente aus der Antike oder aus der Zeit der Wende zum 20.Jahrhundert sind, macht dabei keinen Unterschied: Ab der Distanz von 100 Jahren verflacht das Relief. Wie ist damit umzugehen?

Geschichtsvergessene gehen darüber hinweg und suchen in ihrer Oberflächlichkeit das kleine Glück des Jetzt. Geschichtsbewusste suchen in der Tradition die Wurzeln ihrer Existenz und wissen zugleich, dass Tradition etwas anderes als Authentizität ist. Und Polemiker nutzen Geschichte zur Konstruktion ihrer Visionen. Das beginnt bei Bismarcks markigem „Nach Canossa gehen wir nicht!“ und endet beim krausen „Princip war ein Mandela mit falschen Methoden“ des Dušan Bataković, eines Kollegen von Živojinović. Egal wie absurd, wenn es nur dem Chauvinismus dient, so die dreiste Devise.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2014)

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