Warum es immer mehr unserer Jungmediziner ins Ausland zieht

Es ist schlicht skandalös, wie wenig ein nach intensivem akademischen Studium in Österreich ausgebildeter Turnusarzt als Grundgehalt bezieht.

Chicken“, so heißt ein Duell, das in den 1950er-Jahren die Halbstarken amerikanischer Banden betrieben haben, um herauszufinden, wer der Mutigste unter ihnen ist. Jim und Buzz, so wollen wir die beiden Waghalsigen nennen, gehen den Wettkampf ein: Jeder der beiden stiehlt ein Auto, und in der darauffolgenden Nacht rasen die beiden auf einsamer Landstraße direkt aufeinander zu. Wenn Buzz knapp vor dem Aufeinandertreffen rechts ausweicht, Jim aber Kurs hält, ist Buzz der Feigling, das „chicken“, und Jim, der „lion“, gewinnt.

Weichen beide nach rechts aus, geht das Duell unentschieden aus, aber keiner ist Löwe geworden. Schlimm ist nur, wenn Jim und Buzz stur den Löwen spielen: dass die Schlitten Totalschaden erleiden, stört sie nicht, aber sie selbst müssen mit Blessuren, wenn nicht gar mit dem Tod rechnen.

Der berühmte Mathematiker John Nash analysierte das Spiel: Wie soll sich Jim verhalten, wenn er die Wahrscheinlichkeit kennt, mit der Buzz doch noch ausweichen wird? Denn Variationen des „Chicken“-Spiels kommen auf Schritt und Tritt vor: bei Konkurrenten in der Wirtschaft, bei Gegnern in der Politik, bei verfeindeten Mächten, die einander mit Krieg bedrohen. Oder aktuell bei den Ärzten des AKHs, eines der größten Spitäler Europas.

Unter massiver Strafdrohung wurde Österreich verpflichtet, die seit 2003(!) bestehende Richtlinie der EU umzusetzen, wonach die Wochenarbeitszeit in spätestens sieben Jahren 48Stunden nicht überschreiten darf, die etappenweise Anpassung aber ab Beginn 2015 einzuführen ist. Wie Jim im „Chicken“-Spiel stehen den Ärzten zwei Optionen offen: Das „chicken“ stimmt mit seiner Unterschrift zu, 60 Stunden pro Woche zu arbeiten und den eingespielten Betrieb zu sichern. Der „lion“ unterschreibt nicht, riskiert mit der Verkürzung seiner Arbeitszeit eine Gehaltseinbuße, setzt aber darauf, dass sein Gegenspieler, Buzz, mit dem drohenden Szenario eines zusammenbrechenden Betriebs konfrontiert, endlich alles in die Wege leiten wird, mit den bisher tradierten Usancen zu brechen, mit denen junge Mediziner hierzulande ausgebeutet werden.

Denn der eigentliche Skandal besteht darin, dass es überhaupt zu diesem „Chicken“-Spiel kommt. Die Zeichen sind schon seit Jahren an der Wand: Österreich leistet sich eine hervorragende Ausbildung von Ärzten, im Vergleich zum OECD-Durchschnitt kommen aus hiesigen Universitäten fast doppelt so viele Absolventen im Vergleich zur Bevölkerung des Landes.

Ein nach intensiver akademischer Ausbildung knapp über zwei Jahre verpflichteter Turnusarzt erhält ohne Überstunden aber nur knapp mehr als 1800Euro im Monat. Nur mit Überstunden und extra bezahlten Nachtdiensten vertuscht man die schändlich niedrige Entlohnung und betreibt über Jahrzehnte hinweg ein verlogenes Theater. In der benachbarten Schweiz beträgt – kaufkraftbereinigt! – das durchschnittliche Nettoeinkommen eines Arztes beim Einstieg ins Berufsleben rund 2900Euro im Monat.

Wen wundert es, dass es die in Österreich ausgebildeten Jungmediziner – in jeder und jeden von ihnen wurden 400.000Euro investiert– zunehmend ins Ausland zieht? Dazu kommt, dass nach mehr als zwölf Jahren Berufserfahrung mit umfassender Leitungsfunktion in der Schweiz zwischen 6750 und 13.220Euro netto pro Monat bezahlt werden, in Österreich aber nur zwischen 2680 und 5000Euro.

Wann, wenn nicht jetzt, sind die Verantwortlichen aller Lobbys des Gesundheitswesens gefordert? Erstens einen ehrlichen und offenen Befund des derzeitigen Zustands mit all seinen Verwerfungen und Irrationalitäten zu erstellen, zweitens die möglichen Szenarien einer soliden Korrektur zu entwerfen, drittens sine ira et studio den für die Bevölkerung besten und für das Budget angemessenen Entwurf zu verwirklichen. Wenn das „Chicken“-Spiel der Ärzte dafür die Augen öffnet, hat es seinen Sinn erfüllt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner ist Professor an der Technischen Universität Wien und hält dort die Vorlesung „Mathematik für Studierende der Elektro- und Informationstechnik“.

In diesem Jahr ist dazu sein dreibändiges Buch „Anwendungsorientierte Mathematik“ bei Hanser erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2014)

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