Ein eiskalter Utilitarist berechnet die Gesamtsumme des Glücks

Nur weil Begriffe wie Seele oder Gewissen unmodern geworden sind und niemand mehr mit ihnen etwas anzufangen weiß, kann Peter Singer sein Unwesen treiben.

Nächsten Dienstag erhält der australische Philosoph Peter Singer in der Berliner Urania einen nach ihm benannten Preis für seinen Beitrag zur „Tierleidminderung“. Die Laudatio bei der Preisverleihung in Berlin wird Michael Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung halten, die bereits 2011 in Frankfurt am Main den Professor der Princeton-Universität in den USA mit ihrem Ethik-Preis ehrte.

Peter Singer bedient sich, wie 90 Jahre vor ihm der Wiener Anatom und Sozialmediziner Julius Tandler, des Begriffs „unwertes Leben“. Aus Singers Sicht setzt vollwertiges Leben Bewusstsein und Selbsterkenntnis voraus. Daher spricht er Neugeborenen und hirngeschädigten Menschen das Recht auf Leben ab und plädiert offen für aktive Sterbehilfe bei behinderten Neugeborenen, Komapatienten und anderen schwer hirngeschädigten Menschen.

Die Tötung schwerstbehinderter Säuglinge sei, so Singer, „ziemlich vernünftig“, wenn dadurch Geld für andere Zwecke des Gesundheitssystems gespart werden könne: „Ich möchte nicht, dass meine Versicherungsbeiträge erhöht werden, damit Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität teure Behandlungen erhalten.“

Klar, dass in Deutschland die Wogen gegen Singer hochgehen. Wortmeldungen von Politikern wie: „Dass jemand, der die Tötung behinderter Säuglinge legalisieren will, ausgerechnet in Deutschland zum wiederholten Mal einen Preis bekommt, treibt mich vor Wut auf die Palme.“ Oder: „Es ist unerträglich, dass solchen menschenverachtenden Einstellungen eine öffentliche Plattform geboten wird. Solche Ansichten dürfen nicht als legitim anerkannt werden. Sie dürfen nie wieder salonfähig werden, das lehrt uns die Geschichte“ entspringen geballter Empörung, verfehlen jedoch mit ihrem Pathos das Ziel, Singer zu widerlegen.

Peter Singer ist kein politischer Akteur, sondern Philosoph. Ganz im Sinn Voltaires bin ich der Ansicht, dass seine Philosophie grässlich ist, aber ihm soll nicht verwehrt sein, sie zu verkünden. Wenn man ihm Paroli bieten will – und dies halte ich für mehr als geboten! – muss man mit intellektuellem Geschütz gegen ihn kämpfen.

Dies ist in einer Zeit gar nicht so einfach, in der weder Synagoge noch Kirche der Gesellschaft moralische Maßstäbe einzufordern vermögen (beim Islam liegen die Dinge bekanntlich etwas anders). Singer beruft sich auf den Utilitarismus Benthams, der in einer säkularen Welt scheinbar einzigen konsensfähigen Ethik, die auf dem Prinzip „des größten Glücks der größten Zahl“ gründet.

Das valide und wuchtige Kontra dagegen lautet: Bentham irrt, weil Moral nur den Einzelnen betrifft und die Gesellschaft, die „große Zahl“, nichts angeht. Nur das Individuum hat ein Gewissen, das ihm in der Situation, über Leben und Tod zu entscheiden, als Richtschnur dient. Der Staat hat kein Gewissen, die Gesellschaft hat kein Gewissen. Darum sind weder Staat noch Gesellschaft legitimiert, Gewissensentscheidungen, die nur Individuen und deren unmündige Nächsten betreffen, mit einem Regelsystem zu konterkarieren.

Einzigartig hat dies Gisela Hinsberger im Spectrum der „Presse“ vom 18. August 2007 in dem atemberaubenden Artikel „Sofie“ zu Papier gebracht. Sie gebar ein Kind, das Peter Singer zufolge umgebracht gehört, denn laut Singer sei „die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird“. Sie entschied, für ein krankes Kind „zu sorgen, sich an seiner Lebenslust zu freuen und dafür zu kämpfen, dass es einen guten Platz in der Welt findet“. Laut Peter Singer schädigte sie damit das Gemeinwohl, „das größte Glück der größten Zahl“.

Wie erbärmlich klein ist doch die Ethik eines Utilitaristen im Vergleich zum Ethos einer Mutter, die auf ihr Gewissen hört. Nur weil Begriffe wie Seele oder Gewissen unmodern geworden sind und niemand mehr mit ihnen etwas anzufangen weiß, kann Peter Singer sein Unwesen treiben.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2015)

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