Aus der Liste der fast verloren gegangenen Begriffe: „Privileg“

Privilegien als Vorrechte gibt es keine mehr, als Vorzüge hingegen sehr wohl. Privilegien sind kein Anlass zur Selbstzufriedenheit, sie sind vielmehr eine Bürde.

Es ist bereits lang her, als ich einmal mit heiligem Zorn eine Strafpredigt gegen unsere Kinder losließ, weil sie sich ihrer Mutter gegenüber widerborstig verhalten hatten: „Wisst ihr eigentlich“, so legte ich los, „wie privilegiert ihr seid, dass ihr diese Mutter habt? Die nicht allein den math.space organisiert und am Laufen hält, die nicht allein mich unterstützt, die nicht allein dafür sorgt, dass hier zu Hause alles tipptopp läuft, die sogar Tag und Nacht für euch da ist. Sucht einmal, ob ihr eine solche Mutter in einer anderen Familie findet! Aber euch ist dieses Privileg nicht bewusst!“ In diesen Augenblicken meiner Suada war es mir egal, ob die Kinder überhaupt wussten, was man unter einem Privileg versteht.

Egalitäre und Gerechtigkeitsfanatiker bekämpfen seit jeher diesen Begriff und das, was sie hinter ihm vermuten. Ein Vorrecht, das einer einzelnen Person oder einer Personengruppe zuteilwird, hat aus ihrer Sicht in einer modernen Gesellschaft keinen Platz. Und tatsächlich ist es eine wertvolle und mit allen Mitteln zu verteidigende Errungenschaft, dass der Staat keinen einzigen Menschen wegen seiner Abstammung, seiner Herkunft, seines Geschlechts, seiner Sprache, seiner körperlichen Eigenheiten, seiner politischen Anschauungen und seines religiösen Glaubens bevorzugt oder benachteiligt.

Mit dieser Errungenschaft ist indes keineswegs die Leugnung der Verschiedenheit in den Erscheinungsformen der Attribute verbunden. Und es ist allein dem Staat untersagt, in seiner Funktion als Bewahrer von Freiheit und Sicherheit, als Garant für die Zukunft seiner Bürger und als Institution, die Gesetze erlässt, durchführt und ahndet, irgendeine Wertung dieser Attribute vorzunehmen. Hält sich der Staat an dieses Prinzip, gibt es keine Vorrechte mehr.

Vorzüge hingegen lassen sich nicht eliminieren. Denn einzelne Personen oder private Vereine sind in der Bevorzugung oder Benachteiligung von anderen frei. Es ist ihrer Verantwortung für die Gesellschaft, ihrem Gewissen oder ihren Selbstverständnis anheimgestellt zu entscheiden, welche Privilegien sie für zulässig und welche sie für übertrieben erachten.

Dieses Anrecht darf ihnen niemand rauben. So finden wir uns damit ab, dass jene, die ein gerüttelt Maß von Geld, Einfluss oder Beziehungen haben, ihre Bevorzugungen durchsetzen. Zum Wohle derer, die man zu Recht Privilegierte nennt. Nicht einmal die untergegangene Sowjetunion konnte dies mit ihrem Ideal der klassenlosen Gesellschaft verhindern, ganz im Gegenteil.

Besonders deutlich empfindet man das Buhlen nach Privilegien bei der Schule, dort sogar in Verbindung mit Pharisäertum. So genießen zum Beispiel die Kinder eines prominenten Unternehmers, der sich in der Öffentlichkeit als energischer Befürworter der Gesamtschule engagiert, das Privileg, die elitäre und teure American International School besuchen zu dürfen, frei nach dem Motto „Für die eigenen Kinder nur das Beste, sonst aber soll keiner bevorzugt sein“. Wird dann der vermögende Vater aber in einem Interview auf diesen Zwiespalt angesprochen, reagiert er pikiert: „Das ist eine Frage, die ich nicht gern gestellt bekomme.“ So paart sich Elitarismus mit Tartüfferie.

Viel erfrischender wäre es, ehrlich zu bekennen, dass man sich in einer privilegierten Lage weiß und sich bemüht, dass auch die Seinen Privilegien genießen dürfen. Wobei die wertvollsten der Privilegien gar nicht mit Geld zu erwerben, mit Einfluss zu erzwingen, sondern glückliches Schicksal sind: die Geborgenheit in einer harmonischen Beziehung, die Obhut einer heilen Familie, die Begegnung mit einer imponierenden Persönlichkeit, die geistige Frische bis ins hohe Alter.

Zudem bewirken Privilegien, recht verstanden, alles andere als Selbstzufriedenheit. Wer erkennt, privilegiert zu sein, muss sich sogleich der Bürde bewusst sein, sich der zuteilgewordenen Vorteile würdig zu erweisen.

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Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2015)

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