Aus der Liste der fast verloren gegangenen Begriffe: "Gnade"

Da Gnade sowohl Unterwerfung als auch Willkür zur Voraussetzung hat, ist es nur gut, wenn sie dem aktiven Wortschatz entschwindet.

Für die notorischen Querulanten der bundesdeutschen Presse war das Wort, das der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl anlässlich seines Israel-Besuchs im Jahr 1983 von sich gab, ein gefundenes Fressen. Um sich dem israelischen Ministerpräsidenten, Menachem Begin, gegenüber als Repräsentant einer von Kriegsschuld unbelasteten Generation vorstellen zu können, sprach der damals 53-Jährige von der „Gnade der späten Geburt“. Sogleich wurde Kohl vorgeworfen, er missbrauche in diesem Zusammenhang das Wort Gnade als „Alibi für einen Schlussstrich“.

Dass man Helmut Kohl pedantisch den lächerlichsten Lapsus seiner nicht immer glücklichen Wortwahl vorhielt, während man über anrüchigere Worte seines Vorgängers, Helmut Schmidt, nachsichtig hinwegging, kennzeichnete damals die eigenartige Wahrnehmungsfähigkeit deutscher Journalisten. So sprach Helmut Schmidt mehrfach davon, er habe „während des Krieges als Soldat seine Pflicht erfüllt“. Die meisten Kommentatoren sahen darüber gnädig hinweg, er erntete dafür bestenfalls verstohlenes Naserümpfen.

Nicht einmal Ralph Giordano, dem das „dann doch zu happig“ war, ließ sich dadurch von seiner ehrfürchtigen Verehrung für Altkanzler Schmidt abbringen. Helmut Kohl hingegen fühlte sich noch Jahre nach dem ersten Ertönen seines Worts von der „Gnade der späten Geburt“ bemüßigt, sich gegenüber seinen gnadenlosen Kritikastern zu rechtfertigen: „Die Gnade der späten Geburt ist nicht das moralische Verdienst meiner Generation, der Verstrickung in Schuld entgangen zu sein. Gnade meint hier nichts weiter als den Zufall des Geburtsdatums.“

Indirekt gab er damit zu, dass der Begriff Gnade sich nicht in den Kontext dessen fügt, was er eigentlich sagen wollte. Einerseits kann man sich Gnade nicht verdienen. Gnade ist ein Geschenk, das gegeben wird, ohne dass der Beschenkte damit rechnen darf. Am allerwenigsten ist Gnade ein moralisches Verdienst.

Andererseits ist Gnade alles andere als ein Zufall. Gnade setzt jemanden voraus, der sie gewährt. Es wäre auch reichlich lächerlich, hätte sich Helmut Kohl gegenüber Menachem Begin damit gebrüstet, „zufällig“ jünger als sein Vorgänger zu sein. Sicher hat der CDU-Politiker Kohl Gnade als ein Gottesgeschenk verstanden, aber das in seiner Rechtfertigung zuzugeben schien ihm offenkundig unpassend.

Es passt auch wirklich nicht. Gnade setzt einen absoluten Herrscher voraus, der über dem Gesetz steht und sie willkürlich vor Recht ergehen lassen kann. Luther suchte den gnädigen Gott. Vergeblich. Denn wer seine Jünger seine Freunde nennt, ist gütig, nicht gnädig. Wie auch nicht die Gnade, sondern die Gunst zum Bild des himmlischen Vaters passt.

Auch Vergebung oder Versöhnung hat mit Gnade nichts gemein. So gesehen ist Gnade ein zutiefst irdischer Begriff, den die absolut regierenden Theokraten in den Himmel projiziert haben, um ihre Willkürherrschaft mit dem Bild eines gnädigen Gottes rechtfertigen zu können, dem sie hier auf Erden nachzueifern vorgeben.

Da Gnade sowohl Unterwerfung als auch Willkür zur Voraussetzung hat, ist es nur gut, wenn sie dem aktiven Wortschatz entschwindet. Bezeichnenderweise kommt sie in keinem Jesuswort vor (bis auf Lk 18,13, das vermutlich nicht echt ist).

Wiewohl sich bis heute anachronistisch Relikte der Gnade nicht tilgen lassen. Noch immer ist der Bundespräsident ein Gnadenherr, weil er das Privileg besitzt, vor dem Gesetz Verurteilte begnadigen zu können. Vor allem Franz Jonas hatte die Ausübung dieses Rechts besonders ernst genommen und mit der ihm eigenen Korrektheit betont, dass er, der keinen Tropfen Alkohol anrührte, betrunkenen Verkehrssündern nie und nimmer Begnadigung zukommen lassen werde. So schimmert bei einer Persönlichkeit, der alles Monarchische bis ins Mark fremd war, immer noch ein Rest von Absolutismus durch.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und mit Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2015)

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