Aus der Liste der fast verloren gegangenen Begriffe: Verklärung

Narrative Nonfiction nennt man ein neues Genre der Literatur, das dem Sachbuchautor den Freibrief für die Verklärung seiner „Helden“ ausstellt.

„Mein Hölderlin“, schreibt Peter Härtling in seinem Künstlerroman über das lange Zeit zu Unrecht verkannte Dichtergenie. „Ich schreibe keine Biografie. Ich schreibe vielleicht eine Annäherung“, entschuldigt sich Härtling gleich zu Beginn seines Werks.

Freilich will er das von ihm entworfene Bild Hölderlins mit den bekannten Fakten und Lebensdaten dieses Zeitgenossen Goethes in Übereinstimmung wissen, doch eigentlich geht er in seiner Schilderung weit darüber hinaus: Wenn er bei Dialogen, die er sich ausmalt, warnend betont: „So kann es gewesen sein“, weiß man, dass es sich hierbei um einfühlsame Erfindungen handelt. Es ist nicht der historische, es ist Peter Härtlings Hölderlin, den wir in seinem Buch kennenlernen, ein geschönter Hölderlin und darum für die empfindsamen Leser der wahre Hölderlin.

Ich gebe zu, dass ich Härtlings Hölderlin bei der Lektüre zu „meinem“ Hölderlin verklärt habe, zu einer Lichtgestalt ohne Fehl und Tadel. Sich einen so arkadischen Zugang zu leisten, gilt in unseren Tagen als hoffnungslos naiv. Lassen sich doch am Glanz jedes Heroen dunkle Flecken finden, wenn man nur genügend lang an der scheinbar gleißenden Oberfläche reibt. Dazu ist man heutzutage aufgefordert.

Denn es ist als ungerecht verschrien, wenn es Koryphäen geben sollte, die uns Gewöhnliche so weit überragen, dass der Abstand von uns zu ihnen gewaltiger ist als in der Gegenrichtung der Abstand von uns zu einem Affen. Dieses scheinbare Ärgernis wollen viele aus der Welt schaffen. Alles Überragende soll durch kritisches Hinterfragen als Trugbild entlarvt werden. Die Einebnung aller in die Biederkeit des „letzten Menschen“, der „sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht“ hat, ist des Gleichmachers Ziel: „Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus.“ Oder Hölderlin in seinen Turm.

Das, was denen, die keinem Genie seine Einzigartigkeit gönnen, ein Unbill ist, empfinde ich ihnen zum Trotz als fesselnden Impetus. Sich in eine verklärte Persönlichkeit hineinzudenken versuchen, lässt wenigstens ein wenig an ihrer Besonderheit Anteil nehmen, ein wenig von ihrem Denken und Fühlen zehren.

In meinem dieser Tage erscheinenden Buch über „Die Mathematik des Daseins“ versuche ich dies zu vermitteln. Zwar handelt es sich um ein Sachbuch über Spieltheorie – jene mathematische Disziplin, mit der Yanis Varoufakis, der fintenreiche Kurzzeitfinanzminister Griechenlands, seine Kollegen aus der EU und dem IWF um den Finger wickeln wollte. Aber im Buch treten die „Helden“ zuweilen szenisch auf und sprechen in direkter Rede. Narrative Nonfiction nennt man diese neue Genre der Literatur. Und so lugen die Protagonisten aus allen Ecken und Enden hervor: der antike Odysseus, der den Wahnsinnigen mimt, und John Nash, der tatsächlich wahnsinnig wurde.

Ludwig Wittgenstein, der schürhakenschwingende Philosoph, und Oskar Morgenstern, der begnadete Theoretiker des Wirtschaftswesens. Marilyn vos Savant, die Person mit dem höchsten jemals gemessenen Intelligenzquotienten, aber auch Wolfgang Amadeus Mozart, nach Wolfgang Hildesheimer das Genie schlechthin, oder Blaise Pascal, der gewaltigste Denker, den Frankreich hervorgebracht hat. Selbst John von Neumann, der mathematische Tausendsassa, der die Spieltheorie erfunden hat, erfährt, obwohl er in seinem Leben bei Gott kein Heiliger war, in diesem Buch am Ende seines Daseins eine höchst eigenartige Verklärung. Niemand weiß, wie es sich wirklich zugetragen hat, aber die Narrative Nonfiction erlaubt es dem Autor, ihn zu „seinem“ John von Neumann zu formen.

Von Meir Shalev stammt der schöne Satz, dass „die Geschichten, die wir erzählen, genauer sind als die Wirklichkeit“. Dieses Wort, das den Freibrief für die Verklärung ausstellt, beschreibt am besten, was Narrative Nonfiction leistet.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2015)

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