Unsterblichkeit – aus der Liste der fast verloren gegangenen Begriffe

Chillt! So ruft ein Lukrez unserer Tage den Zeitgenossen zu. Lasst die Dinge laufen und genießt den Tag! Denn nichts hält ewig.

Fragt man nach einem Philosophen, der die meistverbreitete Gesinnung des Hier und Heute stimmig erfasst, lautet die Antwort: „Lukrez.“ In dessen Werk „Über das Wesen der Dinge“wirbt er für jene frostige, von Demokrit und später von Epikur vertretene Position, wonach es nur Atome gäbe, unteilbaren Punkten gleich, die sich im Raum bewegten.

Die Atome des Lukrez: Sie haben nichts mit den Elementarteilchen der Physik, nichts mit den Atomen der Chemie gemein, die noch Struktur und Symmetrie in sich tragen. Die Atome des Lukrez sind gesichtslose Symbole des Zufalls, der unzählige Punkte wild verteilt und ungezügelt schwirren lässt. Dieser Zufall ist so blind, wie sein Hintergrund leer ist. Da gibt es nichts zu entdecken.

Alles in der Welt, die Erscheinungsformen der Natur, die geistigen Phänomene, ja auch die Seelen der Menschen entstünden Lukrez zufolge aus Atomgefügen. Sie seien, Kartenhäusern gleich, Illusionen, Trugbilder. Kein Wunder, dass sie fragil sind, ja irgendwann zerbrechen müssen: Eine kleine Verschiebung im Potpourri der Atome sorgt für ihren Untergang, so wie ein Windhauch die Form einer Wolke vertilgt. Nichts hält ewig.

Erstaunlich ist, dass sich Lukrez als Erlöser verstand. Die Römer, deren Aberglaube keine Grenzen kannte, die hinter jedem Missgeschick den Fluch der Götter spürten, die Priester, Vogelbeschauer, Eingeweidewühler mit Unsummen bestachen, um sich Glück im Diesseits wie im Jenseits zu erschleichen, fühlten sich durch die Botschaft des Lukrez von all dem befreit: Jede Sorge sei überflüssig, verkündet Lukrez, vor allem jene, ob einem nach dem Tod etwas drohe. Da gebe es nichts. Sorgt euch nicht, ruft er denen zu, die sich vor Dämonen fürchten, es erwartet euch nichts. Ihr sterbt und seid weg. So wie alles andere auch. Nichts hält ewig.

Chillt! So ruft ein Lukrez unserer Tage den Zeitgenossen zu. Lasst die Dinge laufen und genießt den Tag! Falls es euch Spaß bereitet, für andere zu schuften oder Verantwortung zu tragen – nur zu! Allein bedenkt, dass es nur auf eure Lust ankommt, die ihr dabei verspürt. Denn auf lange Sicht ist jede Anstrengung sinnlos. Was bringt es, die Welt verändern, gar verbessern zu wollen? „Einmal muss man doch den ganzen Zinnober zurücklassen“, murrte einer der gelehrigsten Schüler des Lukrez. Einer, der das Gewissen „wie die Beschneidung eine Verstümmelung des menschlichen Wesens“ schmähte. Einer, der nichts von Moral und Herzensgüte hielt: alles nur Zinnober. Nichts hält ewig.

Non fui, fui, non sum, non curo. Bin nicht gewesen, bin gewesen, bin nicht mehr, mich kümmert's nicht. Der Grabspruch eines Römers ist paradox. Wie kann er „mich kümmert's nicht“ behaupten, wenn er nicht mehr ist? Eigentlich hätte er das Perfekt „non curavi“ in den Stein gravieren lassen sollen. Doch warum überhaupt der Stein? Auch das in Stein Gemeißelte hält nicht ewig.

Das in Stein Gemeißelte zerbröselt irgendwann. Das Universum auch. Trotzdem hat Lukrez nicht unbedingt recht. Wenn sich nämlich seine Atome und sein Hinweis auf den Zufall als Hirngespinst herausstellen, wenn sie nicht das Fundament des Daseins bilden. Platon glaubte im Gegensatz zu ihm: Selbst wenn das Universum und alles in ihm vergeht, bleiben die Ideen des Wahren, des Guten, des Schönen ewig. Und Seelen, die an diesen Ideen Anteil haben, sind unsterblich.

Eine unzeitgemäße Ansicht, sind doch das Wahre, das Gute, das Schöne derzeit fast völlig verloren gegangene Begriffe. Als ich den Letztgenannten zu Beginn der Serie thematisierte, schalt mich Otto Brusatti heftig, ich hätte über diesen „schwierigsten und zum Teil auch bösesten Kunstbegriff überhaupt“ nichts zu vermelden. Klar, dass jemand wie er aufbegehrt, wenn ich Mozart verbaliter unsterblich nenne. Klar, dass auch im Guten, im Wahren der moderne Lukrez nur „böse Kunstbegriffe“ zu erkennen weiß.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker und Betreiber des math.space im
quartier 21, Museumsquartier Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2015)

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