Über die Vorteile des Schreibens auf Zetteln und auf Tafeln

Mit der präzisen Führung der Hand beim Schreiben an der Tafel geht eine Disziplinierung des Denkens einher – bei sich und bei denen, die mitschreiben.

„Lettering“ ist kein besonders schönes Wort. Jene, die es der deutschen Sprache einverleiben wollen, meinen damit etwas anderes, als es im Englischen bedeutet. Dort steht es für das Einsetzen der Texte in Sprech- und Gedankenwolken bei Bildergeschichten und für das Etikettieren mit lautmalerischen Kürzeln wie „Peng!“ für den Pistolenschuss oder dem von Wilhelm Busch wunderbar erfundenen „Klickeradoms!“, wenn im Haus der frommen Helene eine Porzellanfigur herabfällt und zerbricht.

Die „Presse“ vom vergangenen Sonntag hingegen berichtete, dass im Deutschen Lettering für das Herstellen handgeschriebener Texte steht. Die von der Tastatur digitaler Geräte verdrängte Handschrift kommt gleichsam von der Flanke wieder auf uns zu: als edles Kulturgut, mit dem sich auseinanderzusetzen viel mehr Freude als früher bereitet, als das Schreiben mit der Hand eine Selbstverständlichkeit war.

Vielleicht ist es ganz gut, dass die Handschrift heute nicht mehr so alltäglich wie früher ist, weil wir sie dadurch viel mehr zu schätzen lernen. Ich muss gestehen, dass es für mich in der Schule anfangs gar nicht leicht war, mir ein ansprechendes Schriftbild anzueignen.

Zufällig stieß ich, noch vor der Matura, auf ein Faksimile eines Gedichts von Rilke, dessen elegante Schreibweise, vor allem die nach oben gezogenen Bögen beim langen, manchmal auch beim runden s mich so beeindruckte, dass ich versuchte, sie mir anzueignen. Eine gute Übung, denn mit der präzisen Führung der Hand beim Schreiben – vor allem, wenn man sich auf das sehr ästhetische Kurrent einlässt – geht eine Disziplinierung des Denkens einher.

Natürlich verfasse ich die in Kurrent geschriebenen Manuskripte fast immer nur für mich selbst; nur mehr Feinspitze finden sich in dieser Laufschrift ohne Weiteres zurecht. Aber mein Beruf als ein an der Tafel lehrender Professor zwingt mich gottlob dazu, neben dem unvermeidlichen Drücken in die Tastatur des Computers noch mit der Hand wie eh und je (in einer hoffentlich leicht lesbaren lateinischen Schrift) zu schreiben. Auch das handgefertigte Tafelbild geht mit einer Darlegung der Gedanken einher – und zwar in einer Weise, wie es die raffinierteste Powerpoint-Präsentation nie vermag.

Das Tafelbild entsteht spontan und spiegelt den aktuellen Impetus des Vortragenden wider. Die Powerpoint-Präsentation ist vorgefertigt, der Redner hat sich ihr im Vortrag zu unterwerfen. Das Publikum aber spürt sogleich, dass sich hier nicht jemand im Überschwang, sondern nach einem vorbereiteten Muster an es wendet und dass die lehrende Person auf die Stimmung des Publikums nicht eingehen kann.

Selbstverständlich ist das Schriftbild an der Tafel mit all den Unzulänglichkeiten (weil die Tafel zu kurz, die Kreide zu spröde ist, das Tuch mangelhaft löscht) nicht mit der Perfektion eines Powerpoint-Bildes zu vergleichen, aber dieses ist tot und jenes lebendig. Und der gewichtigste Vorteil der handbeschriebenen Tafel gegenüber der elektronischen Projektion: Die Erstellung des Tafelbildes lädt das Publikum zum Mitschreiben – zum Schreiben mit der Hand! – ein.

Beim Powerpoint-Bild hingegen halten die Zuhörer die Kameras ihrer Mobiltelephone hoch, um damit Aufnahmen zu schießen, die kaum Eindruck hinterlassen.

Zuweilen gehen Vortragende einen Kompromiss ein: Sie verzichten zwar auf Powerpoint, setzen sich jedoch vor das Publikum und notieren ihre Aussagen auf Zettel, die von einem Projektionsapparat auf eine Leinwand vergrößert abgebildet werden. Dem Vorteil, damit in ständigem Augenkontakt mit den Hörern zu sein, steht der viel schwerer wiegende Nachteil gegenüber, dass die Proportionen der Formate nicht stimmen: Vor einer Hundertschaft vorzutragen benötigt eine große Tafel und eine dieser Dimension angemessene Schrift. Sie ist anders als die Notiz auf einem Blatt Papier, die immer den Charakter des Privaten in sich trägt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier. Sein neuestes Buch: „Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der
Spieltheorie“
(Hanser-Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2015)

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