Irgendwann stehen wir auf Bäumen und bestäuben jede Blüte einzeln

Der Maoismus hat es in der Volksrepublik China geschafft, die Bienen totzukriegen. Der Kapitalismus wird bald dasselbe geschafft haben. Ob wir uns zu diesem Sieg gratulieren sollen?

Der Spatz war jahrhundertlang ein Lieblingsmotiv chinesischer Landschaftsmaler. Aber ein Spatz ist nicht nur herzig anzuschauen. Er pickt Körner, frisst Saatgut aus Ackerfurchen und schädigt damit die Ernte. Es war also logisch fundiert, als Mao Zedong seine Experten diesen Schaden einmal durchrechnen ließ. Mit dem Ergebnis: Wenn ein Spatz 4,5 Kilo Getreide pro Jahr frisst, vernichtet eine Million Spatzen die jährliche Getreideration von 60.000 Menschen.

Mao glaubte an den wissenschaftlichen Sozialismus und an den Fortschritt. Daran, dass der menschliche Wille die Natur besiegen kann, wenn sich nur genügend Menschen fest genug anstrengen. Am 13. Dezember 1958 schickte er seine 600 Millionen Untertanen in den Krieg. Alle gleichzeitig begannen sie, mit Steinschleudern und Flinten zu schießen, mit Tüchern und Fahnen zu fuchteln, mit Töpfen und Topfdeckeln zu schlagen, sodass die Spatzen nirgendwo landen konnten, nicht zur Ruhe kamen, bis sie überall im Land vor Erschöpfung vom Himmel fielen. Der Krieg war erfolgreich. Hunderte Millionen tote Tiere wurden zusammengekehrt und auf den Müll gekippt.

Doch nach ein paar Wochen hatte China das nächste Problem. Auf den Feldern breitete sich das Ungeziefer aus. Würmer, Maden, Heuschrecken nahmen überhand – Insekten, die einst von den Spatzen gern verspeist worden waren. Weil Mao an Fortschritt und an den Sieg des menschlichen Willens glaubte, ließ er Gift und Pestizide auf die Feder kippen. Auch das war erfolgreich. Die Insekten waren schnell vernichtet. Gleichzeitig war allerdings der Reis auf den Feldern kaputt. 30 Millionen Chinesen kamen bei der Hungersnot 1959 ums Leben. Und mit den übrigen Insekten waren auch die Bienen tot.

Das letzte Kapitel dieser Geschichte ist in Markus Imhoofs neuem Dokumentarfilm „More than Honey“ zu sehen, derzeit im Kino. Es geht so: Sobald im warmen, südlichen China die Obstbäume blühen, heuern findige Geschäftsleute Tagelöhner an. Die gehen in die Plantagen, stellen Leitern auf, zwicken die Staubblätter aus den Blüten, ernten die Pollen und füllen diesen Staub sorgfältig in winzige Papierbriefchen ab.

Dann bricht der Tross in kühlere, nördlichere Regionen auf. Sobald hier die Obstbäume blühen, ziehen wieder Tagelöhner los und lehnen an jeden Obstbaum eine Leiter. Ein Papierbriefchen in der einen, einen Pinsel in der anderen Hand, bestäuben sie dann jede einzelne Blüte.

Hunderttausende Menschen machen das im modernen China. Sie erledigen die Arbeit der Bienen, weil es keine Bienen mehr gibt. O ja, machbar ist das. Wenn man fest daran glaubt, dass der menschliche Wille die Natur besiegen kann, wenn sich nur genügend Menschen fest genug anstrengen.

Jetzt gibt es im Rest der Welt bald ebenfalls keine Bienen mehr. Ganz ohne Mao, ganz ohne „Großen Sprung nach vorn“, ganz ohne Volkskommunen und Topfgeklapper und Steinschleudern. Die Marktwirtschaft verfügt über andere Methoden. Sie hat Agrarförderungen, Bauernlobbys, Saatgutpatente, EU-Quoten. Aber was die Bienen betrifft, hat die Marktwirtschaft ziemlich genau denselben Effekt wie der Maoismus.

Schauen wir, wer das dann bei uns mit der händischen Blütenbestäubung machen wird – jedes Jahr, wenn der Frühling kommt.


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Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.

Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2012)

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