Das war eine echte Frau, mit einem wirklichen Leben

Was in einem multimedialen Shitstorm rasch untergehen kann: das Gefühl dafür, was andere Menschen denn so alles aushalten. Und die Fähigkeit, zwischen Spaß und Ernst zu unterscheiden.

Jacintha Saldanha war 46, eine schmale, schöne Frau. Auf dem Passfoto trägt sie die Haare noch lang; irgendwann ließ sie sich einen Pagenkopf schneiden. Vielleicht war das praktischer bei der Arbeit. Sie war sehr gewissenhaft, sagen Kolleginnen.

Es war ihr wichtig, alles richtigzumachen. Sie gehörte der christlichen Minderheit Indiens an, stammte aus Mangalore an der Westküste. Dort steht das „Father Muller Medical College“, gegründet von einem Jesuitenpater. Jacintha machte dort ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin.

Wenn eine junge Inderin Geld verdienen will, geht sie an den Golf. Jacintha ging nach Muscat, Oman. Gastarbeiter leben dort sittsam, Männer und Frauen in getrennten Quartieren. Dort lernte sie Benedict kennen. Er war drei Jahre älter, Uni-Absolvent, aus derselben Gegend, ebenfalls Katholik. 1993 heirateten sie.

Junal kam auf die Welt, dann Lisha. Als sie sechs und vier waren, zog die Familie nach Bristol, England. Benedict war Buchhalter bei der Spitalsverwaltung, Jacintha nannte sich inzwischen „Jess“. Sie müssen fleißig gewesen sein. 2005 kauften sie ein Haus in Westbury-on-Trym. Ein beschaulicher Vorort, Indira Gandhi ging dort einst zur Schule. Alle paar Tage meldeten sie sich bei den Schwiegereltern in Indien, alle paar Jahre flogen sie hin.

Dann bekam Jacintha ein Jobangebot, das man nicht ausschlagen kann: vom berühmten King-Edward-VII-Spital in London. Wo sich die Queen Mom behandeln ließ, als sie sich an einer Fischgräte verschluckte, wo Celebrities ein- und ausgehen. Die Kinder waren da zehn und zwölf. Es wird für Jacintha nicht leicht gewesen sein, sie in Bristol zurückzulassen, aber der Vater kümmerte sich gut um sie. Unter der Woche wohnte sie im fünfstöckigen Schwesternheim, neben dem Spital, am Wochenende kam sie heim.

Dienstagfrüh um 5.30 hob sie das Telefon ab. Dass nicht die Queen am Apparat war, sondern die Radiomoderatorin Mel Greig, die stümperhaft einen Upper-Class-Akzent imitierte, merkte die Nicht-Mutterspachlerin nicht, und überhaupt – wie redet man mit einer Königin, wenn man alles richtigmachen will?

Jacintha sagte niemandem, was passiert war, nicht einmal ihrem Mann. Die Welt drehte sich wie verrückt um sie herum, Zeitungen, Fernsehen, Twitter, Hysterie. Wie megapeinlich das alles! Wie idiotisch! Schäm dich! Sie verkroch sich, aber es ist kaum möglich, sich zu verkriechen vor einem multimedialen Shitstorm.

Sie muss sehr allein gewesen sein, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Freitag um 9 Uhr konnte ihr Mann sie nicht mehr erreichen, da lag sie schon tot im Zimmer. Sie sei „vor Scham gestorben“, sagt ihr Bruder.

Seither dreht sich die Welt wie verrückt um Mel Greig herum, Zeitungen, Fernsehen, Twitter, Hysterie. Wie megapeinlich das alles! Wie idiotisch! Schäm dich! Mörderin! Auch Mel verkroch sich, aber es ist kaum möglich, sich zu verkriechen vor einem multimedialen Shitstorm.

Auch sie hat eine Geschichte: 30 ist sie, kommt aus Adelaide im hintersten Winkel Australiens. Es muss schlimm zugegangen sein in der Familie, mit 15 riss sie gemeinsam mit ihrer Schwester von daheim aus, ging nach Sydney, jobbte zunächst als Model. Der Job beim Radio war dann ihre große Chance.

Lauter ernst gemeinte Leben, von lauter echten Menschen. Das vergisst man manchmal.


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Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin
in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2012)

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