Wo ist der Jamie Oliver für die österreichischen Schulküchen?

Gutes Essen gehört zum guten Leben, ist Teil der Kultur. Deswegen muss gutes Essen auch zum Schulalltag der Kinder gehören. Mit Messer, Gabel, Vitaminen – und mit Stil.

Zu meiner Zeit gab es den Greißler neben der Schule. Der rührte täglich einen Kübel Extrawurstmayonnaise an und klatschte diese zwischen zwei Semmelhälften. Dazu kaufte ich mir ein Sackerl Kartoffelchips und klebrige Gummischlangen. Fett, Zucker, leere Kalorien, Vitamingehalt nahe null, um zehn Schilling: Das war in meiner Schulzeit mein Mittagessen, beinahe jeden Tag. Es graust mir noch heute, wenn ich dran denke.

Den Greißler gibt es nicht mehr. Doch dass Kinder mittags, nach fünf oder sechs Stunden Unterricht, das Schulhaus ohne Essen verlassen und direkt in die Fänge von McDonald's, Würstelbuden, Döner- und Pizzaschnittenverschleißern getrieben werden – das ist überall in Österreich nach wie vor normal. Eine gesunde, warme, gemeinsame, mit Besteck und Serviette verzehrte Mahlzeit gehört nicht zum Standardprogramm der Halbtagsschule. Zu Semesterbeginn werden Eltern daran erinnert, wie pervers dieser Zustand eigentlich ist.

Oja, es gibt nachvollziehbare Gründe dafür. Die meisten Schulgebäude sind aufs Essen nicht eingerichtet: Sie stammen aus der Gründerzeit des vorvorigen Jahrhunderts; Küchen, Vorratskammern, Freizeiträume und Speisesäle waren damals nicht vorgesehen. In den Bauten der Nachkriegsjahrzehnte verzichtete man auf diese Räume mit voller ideologischer Absicht – man wollte den daheim kochenden Hausfrauen die Daseinsgrundlage nicht entziehen.

Aber heute, wenn die Arbeitszeiten der Eltern immer unregelmäßiger werden und gleichzeitig die Sehnsucht nach Strukturen wächst? An vielen Schulen gibt man sich ja durchaus Mühe. Man geht mittags im Gänsemarsch in eine Betriebskantine oder in ein Wirtshaus in der Nachbarschaft. Privat geführte Schulbuffets kümmern sich oft rührend um die Kinder, selbst wenn sie auf engstem Raum untergebracht sind. Man isst nicht an Esstischen, sondern auf Schulbänken, in Klassenzimmern, auf dem Gang. Mit Plastiklöffeln. Mit den Fingern. Ohne Plan. Und ohne die riesigen Chancen zu nützen, die im Essen eigentlich drinstecken.

Essen ist Biologie. Gleichzeitig ist es Chemie, Wirtschaft, Warenkunde, Handwerk und Kunst. Beim Kochen und Essen werden Kulturtechniken weitergegeben, Beziehungen geknüpft und Rituale etabliert. Es dient nicht bloß der Kalorienzufuhr, sondern könnte auch Lerninhalt für das Leben sein – womöglich einer der wichtigsten überhaupt. Popstarkoch Jamie Oliver hat das schon vor zehn Jahren erkannt und ganz Großbritannien mit seiner Kampagne für hochwertiges Schulessen überzogen.

Es gibt viele gute Gründe für die Ganztagsschule. Es gibt auch ein paar Gründe für eine Halbtagsschule mit bloß freiwilligen Nachmittagsangeboten – manche Kinder machen außerhalb der Schule Sport oder Musik, hängen lieber mit Freunden herum oder verbringen einfach gern Zeit allein. Es gibt Gründe für und gegen die Gesamtschule, für und gegen die Beibehaltung von Sonderschulen und Gymnasien, für und gegen Mehrstufenklassen, Lateinunterricht, modulare Oberstufen, Laptopklassen, Hausschuhzwang, Handyverbote oder Schuluniformen.

Bloß für eines gibt es keinen guten Grund: Hunderttausende Kinder und Jugendliche täglich mit knurrendem Magen auf die Straße zu schicken. Und sie mit Mayonnaisesemmeln und Pizzaschnitten alleinzulassen.


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Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin
in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2013)

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