Das dümmste Argument: "Haben wir keine wichtigeren Probleme?"

Diese Formulierung kommt bevorzugt dann zum Einsatz, wenn die Stärkeren Schwächere in die Schranken weisen wollen.

Okay, es gibt Situationen, in denen die Frage ihre Berechtigung hat. „Haben wir keine wichtigeren Probleme?“ Diese Formulierung passt, wenn man eben in existenzieller Gefahr ist, Krieg, Hunger, Gewalt, Not erlebt, wenn man verfolgt wird, Angst hat oder verzweifelt ist. „Haben wir keine wichtigeren Probleme?“ kann mit Fug und Recht auch fragen, wer tatsächlich Tag und Nacht um die Lösung existenzieller Probleme ringt – wer sich um Hungernde, Unterdrückte, Kranke kümmert, wer ein Feuer löscht oder nach einem Unfall Erste Hilfe leistet.

In den allermeisten anderen Fällen jedoch ist der Satz „Haben wir denn keine wichtigeren Probleme?“ schlicht dumm.

Benützt wird er ja gern, bei jeder Gelegenheit. Besonders häufig, wenn es um sensiblen Sprachgebrauch geht, Rassismus, Gleichberechtigung oder schlicht um den achtsamen Umgang miteinander, zuletzt bei der schauerlich entgleisten Streiterei um den Text der österreichischen Bundeshymne. „Haben wir denn keine wichtigeren Probleme?“ dient dabei als Allzweckwaffe, als Keule. Das Praktische daran: Die Keule funktioniert beinahe immer, ohne dass man groß nachdenken muss. Man lässt den anderen blöd dastehen, und beendet automatisch jede Diskussion.

Erst bei näherer Betrachtung kommt die gesamte Perfidie dieser Argumentationsstrategie zum Vorschein.

1. Wäre die Sache, über die gestritten wird, tatsächlich nicht der Rede wert – warum meldet man sich dann überhaupt zu Wort? Wem es tatsächlich gleichgültig ist, ob die Töchter in der Bundeshymne vorkommen oder nicht, kann sie ja einfach vorkommen lassen. Wem tatsächlich egal ist, wie der „Mohr im Hemd“ heißt, dem wird dieser auch mit anderem Namen schmecken. Viel Energie aufzuwenden, um laut kundzutun, für wie unwichtig man die Angelegenheit hält, über die man sich eben lautstark empört, ist hingegen unlogisch. Und verrät eher das Gegenteil.

2. Es kommt häufig vor, dass Angelegenheiten für eine kleine Gruppe von Menschen von großer Bedeutung sind, während sie für die große Mehrheit keine Rolle spielen. Wie hoch Stufen oder Gehsteigkanten sind, ist allen Menschen gleichgültig, die gut gehen können. Für die wenigen, die mit dem Rollstuhl unterwegs sind, kann eine Stufe oder Kante jedoch das entscheidende Hindernis sein, das sie von Wichtigem ausschließt. Ob homosexuelle Menschen heiraten dürfen oder nicht, tangiert das Leben der Heterosexuellen nicht; für die Betroffenen jedoch macht es einen existenziellen Unterschied. Immer bloß von den eigenen Bedürfnissen auf die Bedürfnisse aller zu schließen, ist ignorant.

3. Häufig steckt in der vordergründig unwichtigen Frage eine wichtige symbolisch drinnen. „Habt ihr denn keine wichtigeren Probleme?“ sagte man jahrelang zu den Kärntner Slowenen, die um zweisprachige Ortstafeln kämpften. Ja, selbstverständlich hatten sie größere Probleme – es ging und geht um die zweisprachige Identität ihres Landes, um Menschenrechte, um Geschichtsschreibung und um kulturelle Sichtbarkeit. Die Ortstafeln für unwichtig zu erklären, bedeutete jedoch, pars pro toto diese gesamte Agenda ins Lächerliche zu ziehen.

4. Ähnlich verhält es sich in der Frage der Sichtbarkeit beider Geschlechter in der Sprache. Selbstverständlich haben die Österreicherinnen größere Probleme als das Binnen-I oder die Töchtersöhne. Aber Binnen-I und Töchtersöhne symbolisieren eine der großen existenziellen Ungerechtigkeiten: Dass es halt immer noch als „normal“ gilt, dass Leistungen von Frauen weniger gelten, weniger wahrgenommen und schlechter belohnt werden. Und dass sie sich, statt auf ihre Rechte zu pochen, halt einfach „mitgemeint“ fühlen sollen, wenn Männer gelobt, geehrt und bezahlt werden.

Haben wir also keine wichtigeren Probleme? O ja, haben wir. Viele sogar. Aber kein einziges dieser wichtigeren Probleme wird dadurch gelöst, dass wir die kleinen beiseitewischen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2014)

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