Man darf nur das versprechen, was man auch halten kann

„Wir kümmern uns um alles und haben alles im Griff“, hörten wir stets von SPÖ und ÖVP. Das autoritäre Denken, das sie damit erzeugten, wendet sich nun gegen sie.

Enttäuschung und Verärgerung über die rot-schwarze Regierung seien das bestimmende Wahlmotiv bei dieser Bundespräsidentenwahl gewesen, heißt es. Um das festzustellen, braucht man keine Meinungsforschung, die Diagnose ist zweifellos richtig. Enttäuschung und Verärgerung haben an diesem Wahlsonntag die Kandidaten der ehemals staatstragenden Parteien SPÖ und ÖVP zermalmt und die politische Landkarte Österreichs blau gefärbt.

Was ist da geschehen? Etwas, das schon lange spürbar war, wenn man es spüren wollte. Mir geht dazu eine Szene nicht aus dem Kopf. Sie ist 20 Jahre her, als Jörg Haider seine ersten spektakulären Wahlerfolge feierte, und damit die (damals noch allmächtigen) Großparteien aufscheuchte.

Die Szene spielte in einer Wiener Tabaktrafik, die Hauptfigur war eine Frau Mitte 40, Angestellte in einem Gemeindespital, Bewohnerin einer Zweieinhalbzimmerwohnung in einem Gemeindebau. Am Vortag hatte die Frau Jörg Haider gewählt, und nun stand sie hier in der Trafik, bebend vor Wut, den sie unbedingt mit den Umstehenden teilen wollte. Und berauscht von der Befriedigung, für diese Wut endlich das richtige Ventil gefunden zu haben. Was war ihr zugestoßen?

Es waren die Fliesen in ihrer Küche, erzählte sie. Vor ein paar Monaten schon hatten sich die ersten von der Wand gelöst, seither waren immer mehr heruntergefallen. Die Frau hatte sich beim Hausbesorger (den es damals noch gab!) beschwert, bei der Hausverwaltung, bei der SPÖ-Sektion, bei der Gemeinde.

Aber monatelang war nichts passiert. Niemand hatte sich für zuständig erklärt, niemand war gekommen, die Fliesen wieder anzupicken, und mit jedem Tag, an dem nichts passierte, war die Frau zorniger geworden. „Die kümmern sich nicht! Denen bin ich scheißegal! Aber jetzt merken sie, dass es mich gibt, denn ab jetzt wähl ich die FPÖ!“

Ich kann mich an meine Ratlosigkeit noch lebhaft erinnern. Wer – wie ich damals – auf den freien Wohnungsmarkt angewiesen war, zahlte mindestens dreimal so viel Miete wie die zornige Frau. Und wäre dennoch nicht im Traum auf die Idee gekommen, irgendjemanden für den Wandbelag der dortigen Küche verantwortlich zu machen. Was, wunderte ich mich, hat die SPÖ mit meinen Fliesen zu tun? Und wie kann man hoffen, Jörg Haider würde sie wieder anpicken?

So banal diese Szene war – mir ist sie wohl deswegen im Gedächtnis geblieben, weil sie einen Mechanismus illustrierte, der bis heute Gültigkeit hat. Die damals staatstragenden Großparteien (die SPÖ in Wien, die ÖVP in den meisten Ländern) hatten den Menschen vor langer Zeit ein umfassendes Versprechen gegeben. Es lautete: „Wir kümmern uns, wir haben alles im Griff. Du musst nichts tun, du musst uns bloß wählen und still sein.“ Dieser Deal begründete die Macht der Großparteien, gleichzeitig bedeutete er die willige Selbstentmündigung des Wahlvolks. Verantwortung wurde nach oben delegiert. Daraus entwickelte sich ein Drama in mehreren Akten, dessen Finale wir heute erleben. Denn SPÖ und ÖVP haben ihr damaliges Versprechen nicht gehalten. Nicht halten können.

Nicht nur bei den Küchenfliesen konnten sie ihr Versprechen nicht halten, sondern ebenso in allen anderen Bereichen: Weltwirtschaft, Bildung, Wohnen, soziale Fragen bis hin zur europäischen Sicherheit und grenzüberschreitenden Migration – über manches hatten die Parteien tatsächlich keine Gestaltungsmacht. Sie trauten sich aber nicht, das ihren Wählern gegenüber offen zuzugeben. Über anderes hatten sie sehr wohl Gestaltungsmacht, trauten sich aber – aus den verschiedensten Gründen – nicht, sie zu nützen. Stattdessen spielten sie politisches Handeln bloß vor.

Das merkt man natürlich, als Zuschauer. Es erzeugt den Verdacht, belogen zu werden. Es erzeugt Misstrauen, Enttäuschung, und Wut. Am meisten bei jenen, die sich grundsätzlich schon gern bevormunden ließen – würden sie als Gegenleistung bloß weiter versorgt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.