Wie funktioniert Österreich? Ein aufschlussreicher Blick ins Getriebe

Angst vor Bloßstellung, Herdentrieb und obrigkeitshöriges Denken – all das hat die Wahlanfechtung bereits zutage gefördert. Bloß keine Wahlfälschung.

Eine Maschine läuft jahrelang. Erst wenn sie plötzlich blockiert, macht man den Deckel auf und schaut hinein. Und ist oft überrascht: Da schau her! Dass da drin eine Feder/ein Gewinde so voll Rost ist! Zumindest dies ist einer der Vorteile analoger Maschinen gegenüber digitalen: Man kann sie zerlegen und dadurch besser verstehen. Bei Nähmaschinen ist das so. Bei Automotoren. Und bei der Demokratie.

Unvergessen etwa das Lehrstück der amerikanischen Präsidentschaftswahl zwischen Al Gore und George W. Bush. Die Entscheidung war 2000 denkbar knapp ausgefallen, die Stimmen im Bundesstaat Florida mussten neu gezählt werden, und die Nation bekam dabei detaillierten Einblick in das Innere der amerikanischen Demokratiemaschine.

Im wörtlichen Sinn – denn in Florida wählt man per Wahlautomat, ein Hebel muss gezogen werden, der ein Loch in den Stimmzettel stanzt. Mit Lupen sind die Zähler nun vor den Zetteln gesessen und mussten einzeln entscheiden: Wie groß muss das Loch sein, damit die Stimme zählt? Was tun, wenn das Papierfetzerl noch dranhängt? Oder reicht ein sichtbarer Abdruck? In anderen Teilen des Landes haben viele da zum ersten Mal gehört, dass es überhaupt Wahlautomaten gibt. Denn in Amerika existieren Dutzende Wahltechniken nebeneinander – vom Bleistift bis zum Touchscreen. Was nur einer von mehreren problematischen Aspekten der US-Demokratie ist.

In diesen Wochen hat nun Österreich in das innere Getriebe seiner Demokratie geblickt – in 30 Stunden öffentlicher Verhandlung über die Bundespräsidentschaft-Stichwahl. Auch hier sind die Erkenntnisse lehrreich.

Erstens: Es gibt hier offenbar eine große Beflissenheit, Vorgaben korrekt zu erfüllen. Zumindest so, dass nach außen hin alles korrekt ausschaut. Nicht Schlendrian, Schlamperei waren das Problem in den beanstandeten Bezirken. Sondern, im Gegenteil: der Eifer, alles so rasch und reibungslos wie möglich fertigzukriegen, um den Preis, dabei Regeln zu verletzen. Nicht Trödelei ist die Gefahr in Österreich, sondern vorauseilender Gehorsam.

Zweitens: Das verrät Angst: Angst vor einem Rüffel. Angst davor, öffentlich bloßgestellt zu werden. Die übergeordnete Behörde ruft an und fragt, wann wir endlich fertig sind? Um 17 Uhr will der Minister ein Ergebnis verkünden? Dann muss man halt rasch den Vollzug melden, egal wie. Nur ja nicht der Letzte sein! Nur ja nicht auffallen! Nur ja nicht im Fernsehen genannt werden, als jene Gemeinde, die den ganzen Betrieb aufhält!

Drittens: Blindes Vertrauen in die Obrigkeit ist weit verbreitet. Und die Scheu davor, als Einziger aufzuzeigen. Wenn alle ein Protokoll unterschreiben, das nicht den Tatsachen entspricht – dann tu ich's auch. Wenn der Beamte/die Parteikollegin/ein Jurist sagen, dass es passt – dann wird's schon passen. Wer bin ich denn, dass ich widersprechen und Sand ins Getriebe streuen dürfte? Zumal wir alles schon seit Jahren so handhaben!

Viertens: Für Dienst an der Allgemeinheit Freiwillige zu finden ist offenbar schwer. Unter FPÖ- Anhängern noch schwerer als bei anderen. Man erinnert andere ungern an staatsbürgerliche Pflichten, ist froh, wenn sie einem von Beamten bereitwillig abgenommen werden. Mehr noch: Wer sich freiwillig engagiert, wird sogar misstrauisch beäugt. Was Wahlbeisitzer wohl alles gezahlt kriegen! Warum sonst sollten sie sich das denn antun?

Fünftens: Regeln verändert man in Österreich nicht. Sie werden als gottgegeben empfunden, wie die Steintafeln des Moses. Auch dann, wenn sie sich in der Praxis als untauglich erweisen, stellt niemand sie öffentlich zur Diskussion oder macht gar Verbesserungsvorschläge. Lieber biegt man das eigene Verhalten zurecht und begeht eine kleine Gesetzesübertretung, die durch stetige Wiederholung irgendwann quasi zum Gewohnheitsrecht wird.

Egal wie der Verfassungsgerichtshof über die Bundespräsidentenwahl entscheidet – Österreich kennen wir nun intimer als vorher.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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