Da schlägt der Retroalarm an

Die Ungarn schwelgen in der Vergangenheit. Also: Achtung!

Wer am Budapester Keleti-Bahnhof zum Zug läuft, kommt an einem Kiosk vorbei. Sandwiches gibt es dort zu kaufen, Chips, Fanta und T-Shirts. Die sind prominent in der Mitte platziert und zeigen Großungarn in den Landesumrissen vor hundert Jahren. „Nieder mit Trianon“, steht auf den Leiberln.

Trianon? Das ist ein Lustschloss im Garten von Versailles, das König Ludwig XIV. als lauschigen Rückzugsort bauen ließ. Berühmt war es für seine Fayencekacheln, heute könnte das allenfalls Architekturstudenten interessieren. Trianon? Dort unterzeichneten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs auch den Friedensvertrag – und schlugen weite Landstriche Ungarns, samt Bevölkerung, der Tschechoslokawei, Rumänien und Jugoslawien zu. So gesehen, wäre Trianon eher Thema für ein zeitgeschichtliches Uni-Seminar.

Für hastende Reisende in einer zugigen Bahnhofshalle scheint es jedenfalls nicht ganz apropos ... Doch das ist ein Irrtum. Das Wort „Trianon“ ist in Ungarn dieser Tage überall. Und ähnlich wie in Österreich zu „Cordoba“ jeder Kommentar überflüssig ist, weiß jedes ungarische Kind auf Anhieb, was mit „Trianon“ gemeint ist: der verblichene Traum von alter Größe. Samt der Schande, gedemütigt worden zu sein.

Bei der Angelobungszeremonie im neuen Parlament gab es zwei interessante Details, die nur wenigen Berichterstattern auffielen. Erstens kommt die ungarische Regierung völlig ohne Frauen aus – ein europaweites Unikum. Auch auf den Abgeordnetenbänken sind Männer beinahe unter sich; viele übrigens im „Bocskai“, einer schwarzen, bestickten Jacke, wie sie früher Beamte und Adelige trugen.

Das wäre schon retro genug, doch es kam noch seltsamer: Auf einigen Ehrenplätzen für Abgeordnete, gleich hinter den Bänken der rechtsradikalen „Jobbik“-Partei, hatten Vertreter der Ungarn aus den Nachbarländern Platz genommen. Aus Rumänien, Serbien, der Slowakei. Sie saßen da, ganz selbstverständlich, als sei Ungarn über Nacht um einige hundert Quadratkilometer größer geworden. Als seien diese Vertreter ganz normale Abgeordnete. Als gehörten sie ab jetzt dazu. Sie würden auch in Zukunft eingeladen werden, das sei erst der Anfang, sagte der Parlamentspräsident. Man werde jetzt „für die nationale Einheit“ arbeiten, und Verantwortung „für 15 Millionen Ungarn“ übernehmen.

Ungarn hat zehn Millionen Einwohner.

Demnächst will die Regierung anfangen, unter den ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern ungarische Reisepässe zu verteilen. Mit der Staatsbürgerschaft werden sie an ungarischen Wahlen teilnehmen dürfen. Man wird den Eindruck nicht los: Da will sich jemand etwas zurückholen. Da sinnt jemand auf Revanche. Und wir wissen ja: Je lauter und je inbrünstiger Machthaber von der Vergangenheit sprechen, von Trianon, von Versailles oder von der Schlacht auf dem Amselfeld, desto besser müssen wir aufpassen. Denn dann wird's in der Gegenwart gefährlich.

Sibylle Hamann ist Journalistin in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2010)

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