Binnen-I und Erniedrigung: Feminismus, auf den Kopf gestellt

Zwei völlig konträre Haltungen im Hinblick auf die Stellung der Frau: Die EU verordnet Gender-Ideologie, der Staat aber kann Übergriffe nicht verhindern.

Kampf um Gleichberechtigung? Ihn brauchen wir nicht mehr, wir sind doch längst gleichberechtigt! So dachten viele jüngere Frauen bis vor Kurzem. Wer diskutiert noch darüber, ob Mädchen studieren dürfen? Mittlerweile stellen sie die Mehrheit der Absolventen an den Unis. Oder wer käme auf die Idee, dass eine junge Frau die Erlaubnis ihres Vaters brauchte, wenn sie heiraten will? Wem ist noch bewusst, dass Ehemänner ihren Frauen verbieten konnten, einen Beruf auszuüben? Dabei ist dies erst in den 1970er-Jahren abgeschafft worden.

Rechtlich betrachtet kann man von einer völligen Gleichstellung, ja in mancher Hinsicht sogar Bevorzugung der Frauen sprechen. Freilich gilt es, die letzten Bastionen zu erobern, die Chefetagen in gleichen Teilen zu besetzen und endlich gleichen Lohn zu erhalten. Aber sonst?

In der Praxis sieht die Sache natürlich nicht so rosig aus, es gibt weiterhin Diskriminierung, Sexismus und Gewalt. Aber es herrscht ein starkes Unrechtsbewusstsein vor, diese Dinge finden meist nur versteckt statt und werden sanktioniert, wenn sie nachgewiesen werden. Wie viele Männer heute selbstverständlich die Gleichberechtigung der Geschlechter verinnerlicht haben, zeigten auch die Wortmeldungen der letzten Tage zu den Vorfällen in Köln. Sie ließen eine erfreuliche Solidarisierung mit den Frauen erkennen.

In mancher Hinsicht haben wir es sogar mit einem überschießenden oder fehlgeleiteten Kampf um Gleichberechtigung zu tun: An den Universitäten ist Geschlechtersensibilität mittlerweile ein allumfassendes Schlagwort. Die Gender-Ideologie fordert, dass jeder sein Geschlecht nach Belieben wählen soll.

Von einem Tag zum anderen wurde jedoch offenbar, was man zuvor kaum zu thematisieren gewagt hat: Frauen werden in aller Öffentlichkeit zu reinen Sexualobjekten degradiert und gedemütigt. Das kannten wir bisher nur aus Indien oder Kairo. Es kann in Hinkunft aber jede Frau in Europa treffen. Auch die starken, selbstbewussten, gleichberechtigten Frauen werden damit konfrontiert, archaisch auf ihr Geschlecht und ihre Körperlichkeit reduziert zu werden, auf ihre Rolle als „Opfer“, das potenzielle Täter möglichst wenig provozieren soll.

Plötzlich ist so etwas Grundlegendes wie ihre persönliche Freiheit in Diskussion. Sie müssen sich von der Exekutive den (gut gemeinten) Rat anhören, nicht mehr allein im Dunkeln unterwegs zu sein und sich nicht „aufreizend“ zu kleiden. Was aber nützt uns Frauen das Achten auf geschlechtergerechte Sprache, wenn unsere persönliche Freiheit so dramatisch eingeschränkt wird?

Es ist nicht so plötzlich gekommen, wie es scheint, mit den Vorfällen in Köln ist nur die Öffentlichkeit aufgewacht. Schon lang warnen Kennerinnen islamischer Länder vor den Problemen mit jungen Männern aus diesem Raum. Islamische Feministinnen beklagen nicht erst seit gestern, dass in ihren Heimatländern Frauen selbst bei Vollverschleierung ständig sexuell belästigt werden.

Sie haben immer wieder das Unrecht und die Gewalt angeprangert, die Frauen in diesen Ländern systematisch angetan werden, und haben die Solidarität der Europäer gefordert.

Sie wurden alle nicht gehört. Jener deutschen Polizistin, die die skandalöse Ohnmacht gegenüber Tätern mit Migrationshintergrund aufdeckte, schwappte eine Welle medialer Empörung entgegen. Besäße sie nicht selbst türkische Wurzeln, man hätte sie flugs ins rassistische Eck verbannt. Doch Angst der Frauen um ihre Freiheit und Sicherheit, ihre Sorge vor dem Verlust ihrer Würde, kennt kein politisches Etikett. Sie kennt auch keine Rasse oder Nationalität.

Das entschlossene Eintreten gegen Erniedrigung und Gewalt ist ebenso ein Akt der Solidarität für jene Frauen, die auch aus diesem Grund aus ihrem Herkunftsland geflohen sind und in Europa Schutz und Sicherheit suchen. Wir haben zwar strenge Gesetze, doch deren Wirksamkeit darf angezweifelt werden, wenn sie nicht rigoros durchgesetzt werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Dr. Gudula Walterskirchen ist Historikerin und
Publizistin. Sie war bis 2005 Redakteurin der „Presse“, ist seither freie Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.
www.walterskirchen.cc

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2016)

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