Der gefährliche Frust der nachgeborenen jungen Männer

Zu viele junge Männer ohne Chancen auf soziale Stellung fördern die Gewaltbereitschaft, lautet eine interessante These. Ein Blick in die europäische Geschichte.

Angesichts der anhaltenden Bürgerkriege, etwa in Syrien, Afghanistan und in Teilen Afrikas, erhält eine These wieder verstärkt Aufmerksamkeit, die Gary Fuller Mitte der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts aufgestellt hat: Er sah einen Zusammenhang zwischen einem Überhang von jungen Männern in einer Gesellschaft, einem „youth bulge“, und der zunehmenden Bereitschaft zu Revolution und Bürgerkrieg. Der deutsche Soziologe Gunnar Heinsohn sieht sogar zwangsläufig eine Gesellschaft auf gewalttätige Auseinandersetzungen zusteuern, wenn es zu viele nachgeborene Söhne gebe. Für ihn liegt die kritische Grenze bei etwa 30 Prozent der Männer zwischen 15 und 29 Jahren. Diese könnten keine entsprechende soziale Stellung erringen, in streng islamischen Gesellschaften nicht heiraten, und so entstünden Frust und Aggression. Erst wenn ausreichend gemordet worden sei und die Geburtenrate wieder sinke, würden die Konflikte beendet.

Im ersten Moment mutet diese These zynisch, ja barbarisch an. Blickt man jedoch in unsere eigene, die europäische Geschichte zurück, ist sie nicht ganz von der Hand zu weisen. So etwa stiegen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Geburtenzahlen in Europa stark an, somit gab es viele nachgeborene Söhne. Sie waren es, die 1914 begeistert dem Ruf zu den Waffen folgten und „für Kaiser und Vaterland“ in den Krieg zogen. Ähnliches wiederholte sich in den Zwanzigerjahren, diesmal folgte die männliche Jugend dem Führer in den Zweiten Weltkrieg. Auffallend ist, dass die jeweilige Ideologie oder Person, für die gekämpft wurde und wird, relativ nebensächlich ist: sei es der Kaiser, Marxismus, Nationalismus, Nationalsozialismus oder ein religiöser Extremist.

Blickt man noch weiter zurück, dann trachteten die nachgeborenen Söhne Europas ab dem 16. Jahrhundert in den Kolonien jene Stellung zu erringen, die sie zu Hause nicht einnehmen konnten. In Spanien nannte man diejenigen, die nach Südamerika aufbrachen, Secundores, also Zweit- oder Nachgeborene. Auch Österreich hatte sich, obwohl es keine Kolonien besessen hat, daran beteiligt. Der prominenteste dieser Secundores war Kaiser Maximilian von Mexiko: Der österreichische Kaiserthron war von seinem älteren Bruder Franz Joseph bereits besetzt, also folgte der ehrgeizige junge Mann der Verlockung in ein fernes Land. Wie wir wissen, endete das Unternehmen in der Katastrophe.

Das demografische Problem der überschüssigen Söhne wurde in den verschiedenen Gesellschaftsschichten in Europa unterschiedlich gelöst. Im Adel gab es eine fixe Regelung: Dem Erstgeborenen stand das gesamte soziokulturelle und materielle Erbe zu, er erhielt also alle Titel und das Vermögen. Er konnte so eine große eigene Familie erhalten. Die nachgeborenen Brüder wurden entweder Geistliche, Soldaten oder (Hof-)Beamte. Die wenigsten von ihnen gründeten eigene Familien. Im bäuerlichen Milieu erhielt ebenfalls der älteste Sohn den Hof, die anderen mussten sich anderswo verdingen. Allen Schichten war im 19. Jahrhundert gemeinsam, dass sie erst heiraten durften, wenn sie ausreichend finanzielle Mittel erworben hatten, um eine Familie zu ernähren. Somit war nicht nur die Zahl der jungen Männer, sondern auch die schlechte wirtschaftliche Situation mit ausschlaggebend für die Gewaltbereitschaft. Dies wurde etwa in der Wirtschaftskrise der Dreißigerjahre besonders augenfällig.

Relativer Friede herrsche überall dort, wo es nur wenige Kinder pro Frau und nur einen Sohn gebe, folgert der Soziologe Heinsohn. Dies ist wohl sehr verkürzt. Vielmehr ist evident, dass Wohlstand für viele, also eine breite Mittelschicht, den Jungen die Chance gibt, sich ein eigenes Leben und eine Familie aufzubauen. Österreich etwa war nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Marshallplan in der Lage, rasch Jobs und Wohlstand für viele zu ermöglichen. Junge Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft mit Aufstiegschancen sind taub für Kriegsgeschrei.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Dr. Gudula
Walterskirchen ist Historikerin und
Publizistin. Sie war bis 2005 Redakteurin der „Presse“, ist seither freie Journalistin und Autorin zahlreicher Bücher mit historischem Schwerpunkt.

www.walterskirchen.cc

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2016)

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