Wenn sich China erhebt...

Wer die konstruktive Mitwirkung Chinas bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen erreichen will, darf es weder dämonisieren noch auf die geduldige Einforderung von Demokratie und Menschenrechten verzichten.

In einer Mischung aus Staunen und ängstlichem Unbehagen blickt der Westen nach China. Dreißig Jahre der Öffnung und kühner Wirtschaftsreformen haben das Land in die Weltliga katapultiert. Wie umgehen mit diesem Riesen? Für alle globalpolitischen Rechnungen gilt heute ein Revisionszwang. Das Land der 1300 Millionen Menschen bestimmt die Spielregeln mit.

Vor 200 Jahren ahnte Napoleon: „Wenn sich China erhebt, erzittert die Welt.“ Es ist nicht nur die schiere Größe, die westliche Abstiegsängste verstärkt. Es ist auch die Vermutung einer tiefen kulturell-politischen Differenz. Die europäische Aufklärung ist nicht das aufgelöste Rätsel der Weltgeschichte. Diese Vorahnung verunsichert mehr als das Reden von der „gelben Gefahr“. Die Neureichen von Peking und Schanghai mögen bei einem Glas „Mouton Rothschild“ mit ihren Partnern handelseins werden, die Oberflächennutzer der Internet-Community mögen die Morgenröte allgemeiner Freiheit und Demokratie zu spüren vermeinen – doch das Reich der Mitte tickt nach älteren Gesetzen als denen westlicher Ratio.

Hier liegt der Rest Unbegreiflichkeit eines noch so modernen China in der Kommunikationsebene zwischen Europa und Asien. Seitdem China mit den glitzernden Skylines seiner Metropolen, den Spitzenprodukten seiner Technologie, der Entfesselung seiner schöpferischen Talente, den atemberaubenden Wachstumsraten auf allen Gebieten den vermeintlichen Siegeszug der westlichen Modernisierung markiert, wendet eben dieser Westen auch die eigenen Werteparameter gleichermaßen auf China an. So entsteht jene Wahrnehmungsverfehlung, wie sie sich bei den Tibet-Protesten gezeigt hat.

Wer lernt von wem? Einerseits erkennt der Westen, dass China trotz aller Modernisierung ein Polizeistaat (halb)kommunistischer Prägung geblieben ist. Auf der anderen Seite fühlen sich die Chinesen vereint in verletztem Stolz, nationalistischer Aufwallung und dem Gefühl, wieder einmal von einem Westen gedemütigt zu werden, der nur das Erfolgssymbol der Olympischen Spiele beschädigen wolle.

Die chinesische Führung ist erkennbar nervös. Die sozialen Spannungen wachsen. Die sich überschlagende Wirtschaftsentwicklung zieht gefährliche Verwerfungen nach sich (von der Massenmigration im Inneren bis zu den Umweltdesastern). Die Olympiade sollte zum triumphalen Zeichen des Zusammenhalts und Aufstiegs aus eigener Kraft werden. Ob das gelingt oder ob sich die Spiele infolge westlicher Dauerproteste zum Fiasko entwickeln, scheint offen zu sein. Die Spiele in Tokio 1964 und in Seoul 1988 hatten die Entwicklung dieser Länder zum Positiven verändert. Das mag auch im lernenden China geschehen.

Beeindruckende Erfolge

In Kaufkraftparitäten gemessen, ist das Land bereits die Nummer zwei in der Weltwirtschaft; noch heuer könnte es Deutschland als Exportweltmeister entthronen. Mit seinen riesigen Dollarreserven finanziert es die Überfluss- und Schuldenwirtschaft der USA – die enge Verkopplung zwingt beide Seiten zu Pragmatismus und hoher Verantwortlichkeit. In der globalen Finanzwirtschaft hat China seine stabilisierende Rolle bewiesen.

Zunehmend gilt das auch für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Längst vorbei die Zeit maoistischer Gelüste zur Weltrevolution. Es waren nicht Boykottdrohungen und eine Isolierung von außen, die China bewogen, die Rolle eines multilateralen Verantwortungsträgers zu übernehmen – es war die Erkenntnis, dass nur äußere Stabilität dazu beitragen kann, die kolossalen inneren Turbulenzen zu kontrollieren.

Auch wenn man heute den alten „Fortschritts“-Begriff für angenagt halten mag, eines ist nicht zu bestreiten: Was der chinesischen Führung seit Deng Xiaopings Kehrtwende vor dreißig Jahren gelang – dass sich 300 Millionen Menschen (manche sagen: 400 Millionen) aus Hunger und Armut befreien konnten und dass das Vielvölkerreich seine Stabilität zu wahren vermochte –, zählt zu den beeindruckendsten Erfolgen der Menschheitsgeschichte.

Nur mit, nicht gegen China

Doch Dauerhaftigkeit ist nicht garantiert. Umso vorsichtiger setzt Peking seine Schritte. Alle Energien sind von der inneren Entwicklung absorbiert. Dazu gehört auch jene langfristige Ressourcensicherung (Öl, Gas und andere Rohstoffe), die zwangsläufig in den härtesten Wettbewerb führt. Doch er muss nicht konfrontativ enden – außenpolitische Abenteuer kann sich China nicht leisten. Die Pekinger Führung scheut sogar davor zurück, das Ventil eines aggressiven Chauvinismus allzu stark aufzudrehen – in der Sorge, die Geister, die man ruft, nicht mehr loszuwerden.

So kommt es, dass China immer deutlicher an einer Beruhigung der Konfliktherde in seiner Nachbarschaft interessiert ist: Druck auf Nordkorea (freilich auf „asiatische Art“), Freundlichkeiten gegenüber Indien (ohne Pakistan preiszugeben), Entspannungskurs gegenüber Taiwan und Japan. Und neuerdings eine beginnende Revision des Schmusekurses gegenüber Diktaturen wie Sudan und Zimbabwe.

Natürlich gibt es auch Warner. Der amerikanische „Neocon“ Robert Kagan weist auf die enorme Aufrüstung Chinas hin, das er für eine bedrohliche Hegemonialmacht von morgen hält: „In der Weltgeschichte ist bisher jede aufstrebende Macht früher oder später mit den anderen Mächten in Konflikt geraten. Warum sollte China diesem Schicksal entkommen?“ Die Antwort lautet: Weil China in seiner gesamten Geschichte fast schon obsessiv an seiner inneren Stabilität interessiert war, nicht an äußerer Expansion. Man muss China als Weltmacht voll – und das heißt wirklich auf gleicher Augenhöhe – in die globale Mitverantwortung integrieren.

Die Bewältigung der globalen Herausforderungen kann nur mit, nicht gegen China erfolgen: Klimawandel und Energiesicherheit, Massenmigration und Seuchengefahren, Kampf gegen den Terrorismus und die Atomwaffenverbreitung. Wer die konstruktive Mitwirkung Chinas erreichen will, darf es weder dämonisieren noch auf die geduldige Einforderung von Demokratie und Menschenrechten verzichten.

Gewiss ist China kein Rechtsstaat – aber zaghafte Schritte in diese Richtung sind doch nicht zu übersehen. Gewiss wird jede politische Oppositionsregung verfolgt – aber außerhalb der Politik ist das Ausmaß individueller Meinungsfreiheit größer als jemals zuvor. Dennoch – und trotz des Eigengewichts konfuzianisch-taoistischer Traditionen – wächst durch das Auseinanderklaffen zwischen wirtschaftlicher Freiheit und politischer Unfreiheit ein Explosionspotential heran, vor dem auch die Pekinger Führung rat- und tatenlos steht. Letztlich müsste sie das Machtmonopol der Partei abschaffen und politischen Pluralismus erlauben. Doch hier verläuft unverändert die rote Linie.

Die Waffen eines Papiertigers

Warum versteht China nicht, dass das westliche Insistieren auf Demokratie und Menschenrechten keine Einmischung in innere Angelegenheiten ist, sondern das Kernstück eines inzwischen universal gewordenen Bildes von menschlicher Würde? Umgekehrt: Warum nützt der Westen die Hebel, die er hat, nicht einfühlsamer und klüger? Warum triumphiert Geschäftemacherei so oft über die hehr proklamierten eigenen Werte? Schon im 19. Jahrhundert spottete man über die Briten: „Sie sagen Christus und meinen Kattun.“

Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele in Peking ist Tibet kaum mehr ein Thema. Das Erdbeben von Sichuan hat die Welt milde gestimmt. Der Dialog mit Vertretern des Dalai Lama blieb wie erwartet ergebnislos – ein Dialog zwischen Tauben und Stummen. China wird die Probleme auszusitzen versuchen. Irrt es, wenn es die Menschenrechtsforderungen des Westens als Waffe eines Papiertigers betrachtet?

Dr. Paul Schulmeister war von 1972 bis 2004 beim ORF, insgesamt 15 Jahre Deutschland-Korrespondent in Bonn und Berlin. Seither freier Journalist in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2008)

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