Europas Regierungen in der Geiselhaft der Finanzindustrie

Die Eurokrise. „Too big to fail“ – von diesem Erpressungspotenzial der Großbanken und Finanzinvestoren hat sich die Politik noch nicht befreit.

Wenige Tage vor dem nächsten EU-Gipfel ist klar: Erstens, die Euro-Rettung kommt in Wirklichkeit nur halbherzig voran. Die bevorstehenden Einigungsfanfaren sind fehl am Platz. Sie werden die Märkte kaum überzeugen können.

„Pakt für den Euro“, trompeten die Politiker – aktionistische Wortakrobatik, die verschleiert, dass sich zurzeit die Währungs- in eine Haftungsunion verwandelt. Im Gegensatz zur geltenden Vertragslage sollen die Soliden für die Unsoliden haften. Werden das die Wähler akzeptieren?

Zweitens, eine der großen Gefahren wird zu wenig diskutiert. Es ist die labile Lage vieler Banken. Sie sind unterkapitalisiert und stehen mit Milliardenrisken in ihren Büchern da. Was, wenn die Anleger im Fall X ihr Geld abziehen? Die Eurokrise gilt als Krise einer exzessiven Staatsverschuldung. Doch sie ist gleichermaßen eine Bankenkrise. Die Finanzindustrie hält die Politik in Geiselhaft.

Die bevorstehende Zinserhöhung durch die Europäische Zentralbank wird die kranken Staaten weiter schwächen. Mit eigener Kraft können Griechenland und Irland dem Schuldensumpf nicht mehr entkommen.

Tarnwort Wirtschaftsregierung

Die für 2012 prognostizierte Schuldenlast von 160Prozent des BIPs würde Griechenland mit Sicherheit erwürgen, hätten die Eurostaaten jetzt nicht die Rückzahlungsbedingungen erleichtert. Griechische Staatsanleihen werden nur mehr mit 66Prozent des Nennwertes gehandelt. Die Märkte nehmen die (tabuisierte) Umschuldung bereits vorweg.

Ratingagenturen haben die Bonität Griechenlands und Spaniens herabgestuft. Portugal als Wackelkandidat kämpft noch verbissen weiter – wie lange? Die vergangenen Wochen waren ein Lehrstück dafür, wie die Euro-Regierungen vor allem Zeit gewinnen wollen. Ihre internen Differenzen sind zu groß, um eine Grundsatzlösung zu erzielen. „Wirtschaftsregierung“ lautet das beliebte Tarnwort. Jeder versteht etwas anderes darunter.

In der Geschichte der EU waren deutsch-französische Initiativen oft für alle nützlich. Diesmal aber erzürnte das Vorpreschen Sarkozys und Merkels die ausgeschlossenen Regierungen so sehr, dass vom „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ nicht viel mehr als eine Hülle übrig ist. Kann man etwas einen Pakt nennen, wo keine Sanktionen vorgesehen sind, nur Absichtserklärungen ohne Biss?

Das gilt auch für die von Berlin gewünschte Koordinierung der Unternehmenssteuern, der Lohnpolitik und des Renteneintrittsalters. Alles bleibt in nationaler Kompetenz. Wie konnte Merkel glauben, dass ihre Wünsche jemals durchgehen? Es war der Versuch, die europaskeptische deutsche Öffentlichkeit – zumal vor Landtagswahlen – zu beruhigen. Merkel ist nicht Europas Gouvernante. Sie wird die Eurozone nicht auf deutschen Stabilitätskurs zwingen können.

Seit Jahresanfang amtieren in der EU drei Finanzaufsichtsbehörden, doch eine europäische Bankenaufsicht mit wirklichen Durchgriffsrechten gibt es nicht. London hat eine Regulierung der „Schattenbanken“ (Hedgefonds etc.) erfolgreich torpediert. Eine Finanztransaktionssteuer wurde bisher nicht beschlossen. Die Politik glaubt, den Interessen der Finanzkonzerne folgen zu müssen. Der anlaufende Bankenstresstest zeigt das in besonderer Weise.

Ein Schwindel-Stresstest

Im Vorjahr waren von 91 geprüften Instituten nur sieben durchgefallen. Kurz darauf brachen die „sicheren“ irischen Großbanken zusammen und rissen den Staat selbst in den Abgrund. Mit einem Rettungspaket von 85Milliarden mussten die Eurostaaten einspringen. Nie wieder sollte es so einen Schwindel-Stresstest geben.

Doch auch diesmal riskiert die Politik es nicht, die Krisenfestigkeit der Banken wirklich abzuklopfen. Hinter deren Investmentfonds stehen ja Millionen Rentner, Versicherte und andere Anspruchsberechtigte. Sie zu schonen, sieht sich die Politik gezwungen.

Daher werden die Auswirkungen von Umschuldungen auf die Staatsanleihen im Besitz privater Großanleger vorsichtshalber nicht geprüft. Denn sollte ein rigider Stresstest Milliardenabschreibungen erzwingen, dann würden Banken kippen und das Heer der Privatanleger in die Panik treiben. Lieber wie die drei Affen: „Nichts hören, nichts sehen, nichts reden.“

Wo bleibt der Primat der Politik?

Wo bleibt der viel beschworene politische Primat? Das Ringen um die Euro-Rettung ist auch als Versuch zu sehen, diesen Vorrang wiederherzustellen. Als im September 2008 Lehman Brothers Bankrott gemacht haben, sind binnen weniger Tage zahlreiche US-Banken insolvent geworden. Ein solches Finanzdesaster soll es nicht mehr geben.

„Banken retten um jeden Preis“, heißt seither das Motto. Das gilt sogar für die Europäische Zentralbank. Bei einem Bankrott von Staaten, deren Anleihen die EZB für bisher 77Milliarden erworben hat, wäre faktisch das Eigenkapital der EZB vernichtet. Dann müsste man den „Retter“ EZB selbst retten.Vor zwei Jahren hieß es noch: Großbanken seien ein systemisches Risiko, ihre Geschäftsvolumina müssten kleiner werden – heute gibt es mehr Banken als zuvor, deren Größe das Bruttoinlandsprodukt ihres Heimatstaates übertrifft. „Too big to fail“: Solche Institute sind zu groß oder vernetzt, um bankrott zu werden. Ihre Pleite würde das ganze System mit in den Abgrund reißen.

Noch vor einem halben Jahr wurde an eine europäische Ratingagentur gedacht, um die Abhängigkeit von Amerika zu mindern, heute spricht niemand mehr davon. Im vergangenen Sommer schwor Merkel Stein und Bein, dass es keinen Euro-Rettungsschirm auf Dauer geben werde, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ab 2013 beweist das Gegenteil. Noch wehrt sich Berlin gegen die Ausgabe von Eurobonds, doch wie lange?

Bei einem Bankrott Griechenlands würden die Milliardenbürgschaften von Musterknaben wie Deutschland fällig werden. Daher wagt man an Insolvenzregeln für Pleitestaaten nicht zu denken, an die Abwicklung von Pleitebanken wegen des Lehman-Traumas gleichfalls nicht. Das Erpressungspotenzial der Großkäufer von Staatsanleihen ist keineswegs gebrochen. Als Gläubiger wissen die systemrelevanten Banken, dass sie sich einer impliziten Staatsgarantie erfreuen können.

„Uns kann nichts passieren...“

Doch gerade das Bewusstsein „Uns kann nichts passieren“ führt nicht selten zu massiven Fehlanreizen. Die verschärften Eigenkapitalvorschriften können „Moral Hazard“ erschweren, aber nicht verhindern. Nach einer amerikanischen Studie wirkt die implizite Staatsgarantie für systemische Großbanken wie eine Zinssubvention von 0,5Prozent – Milliardengewinne für die Banken. In diesem System können sich die Bankenaktionäre froh die Hände reiben, denn vor Verlusten werden sie geschützt. Notfalls muss der Steuerzahler blechen.

Normal wäre es, die Insolvenz von Pleitebanken zuzulassen. Doch die Angst vor einer explodierenden Panikreaktion der Sparer, die die Banken stürmen, ist zu groß. Ein Teufelskreis, in dem wir stecken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2011)

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