Werden die Euroretter zu Europas "Ruinenbaumeistern"?

Währungsunion am Limit. Der große Befreiungsschlag im Schuldendrama ist noch nicht möglich – wohl erst nach der nächsten, schlimmeren Krise.

Gäbe es Insolvenzregeln für zahlungsunfähige Eurostaaten: Griechenland wäre wohl schon abgewickelt worden. Die Situation ist aussichtslos. Zum einen haben die harten Sparauflagen die Wirtschaft Griechenlands de facto abgewürgt. Zum anderen hilft es nicht, mit neuen Schulden alte zu bekämpfen.

Angesichts des Schwurs der Euroretter „Niemand darf Pleite gehen!“, hatte Athen geglaubt, nur zuwarten zu müssen. Mit der Zusage des zweiten Hilfspakets und längeren Rückzahlungsfristen bei niedrigeren Zinsen war der Moment erreicht.

Seit August nahm Griechenland den Reformzwang auf die leichte Schulter. Die Privatisierung ging nur in Trippelschritten weiter, die Steuereinhebung blieb ineffizient wie eh und je, der aufgeblähte Öffentliche Dienst wurde nicht verkleinert, an die versprochene Öffnung der zunftartig geschützten Berufssparten für den Wettbewerb wagte sich Andreas Papandreou nicht heran. In der Privatwirtschaft würde man von „Konkursverschleppung“ sprechen.

Staatsfinanzen „out of control“

In dieser Situation begann das griechische Defizit, allen Annahmen zum Trotz, erneut zu steigen. Die Staatsfinanzen seien „out of control“, konstatierten Parlamentsexperten: zwei Milliarden fehlten. Die Rezession sei schuld, so Papandreou. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit war er bereit, dem militanten Druck der Demonstranten nachzugeben, da ja der äußere Druck nicht mehr bedrohlich schien.

Ein Riesenirrtum. Nicht nur in Deutschland begann man erstmals über einen Staatsbankrott der Griechen nachzudenken. Blitzartig war Athen zum Umdenken gezwungen. Finanzminister Venizelos erhöhte die Immobiliensteuer und versprach noch für diesen Herbst die Einhaltung sämtlicher Reformversprechungen. Die fällige Tranche von Milliardenhilfen wollte er unter keinen Umständen gefährden.

Aber kann man den Griechen trauen? Das Katz-und-Maus-Spiel ist noch nicht zu Ende. Rom sieht mit Argusaugen zu. Silvio Berlusconi agiert ja durchaus ähnlich. Statt schmerzhafte Strukturreformen anzugehen, bremst er das eine Mal die sogenannten „Sparbemühungen“, ein anderes Mal verschärft er sie – je nach dem Bedrohungsgrad der Risikoaufschläge, die die Finanzmärkte verlangen. Schlimmstenfalls wird dieser Schwindelkurs zum endgültigen Eurokollaps führen.

Natürlich ist der Euro, geldpolitisch gesehen, eine Erfolgsstory. Ein starker Außenwert; die Inflationsgefahren besser gemeistert als es die Bundesbank vermochte; die Wirtschaftsvorteile nicht zu leugnen. Was ist der Kern der „Eurokrise“? Die Staatsverschuldung und die Fehlkonstruktion der Währungsunion. Die Verantwortung dafür liegt bei den Regierungen.

Das Euroschuldendrama mag sich noch ein, zwei Jahre hinziehen. Wer sich von Beruhigungsfloskeln nicht sedieren lässt, sieht nur zwei Möglichkeiten: Entweder den großen Sprung nach vorn – mit einem EU-Finanzminister samt Eingriffsrechten in die nationale Souveränität. Oder ein Fortwurschteln, solange es noch geht.

Schreckgespenst „Superstaat“

Vereinigte Staaten von Europa? Für die meisten Bürger wäre ein solcher „Superstaat“ eine Art Schreckgespenst. Erst eine noch größere Krise könnte ein Umdenken erzwingen. Heute würde jede Rechtsänderung, die über den Lissabon-Vertrag hinausgeht, in Referenden scheitern.

Europa lässt sich nicht ohne die Zustimmung der Europäer bauen. Das weiß die Politik. Da und dort versucht sie, unumkehrbare Tatsachen zu schaffen.

Da hatte etwa Berlin daran gedacht, der künftigen permanenten Rettungsschirmbehörde eine Generalermächtigung zu geben. Sie hätte die Budgethoheit der Parlamente ausgehöhlt. Rasch ist der Plan gescheitert. Verzweifelt hoffen die Regierungen auf „bessere Zeiten“, soll heißen: wenn von einem griechischen Bankenkollaps (der erwartet wird) keine Ansteckungsgefahr mehr zu befürchten ist, z. B. für die EZB und Frankreich, die größten Gläubiger südlicher Staatsanleihen.

Vorerst bleibt es bei Versuchen, immer wieder „Zeit zu kaufen“. Glaubt jemand ernsthaft, dass durch ein Verbot von „Leerverkäufen“, durch die Beförderung Van Rompuys zum Chef einer „Wirtschaftsregierung“ (bei der er nur der Diener seiner Schöpfer sein darf), oder durch den seit Monaten angekündigten „Euro-Plus-Pakt“ die Schuldenkrise rascher lösbar wäre?

Absichtserklärungen ohne Biss

Der „Euro-Plus-Pakt“ ist typisch für eine Rhetorik, die mehr vernebelt als Sicherheit vermittelt. Der Pakt soll die papierenen Sanktionsmöglichkeiten gegen Schuldner endlich schärfen. Auch peilt er harmonisierte Sozial- und Steuerstandards an. Alles nur Absichtserklärungen ohne Biss. Für Frankreich sind „automatische Sanktionen“ tabuisiert wie eh und je.

Ja, eine engere Politikverzahnung wäre überfällig, kann aber nur wirksam werden, wenn sie verpflichtend wäre. Dafür müsste man die EU-Rechtsgrundlagen ändern. Das dauert Jahre und ist damit fürs erste irreal. Die Gesamtschuldnerschaft durch Eurobonds wäre bei einer echten „Wirtschaftsregierung“ verantwortbar und sinnvoll. So aber würden Eurobonds die EU endgültig in eine Transferunion verwandeln. Sie würden den Reformwillen der Olivenländer minimieren und die Risken der (noch) gesunden Euromitglieder erhöhen.

Heute bestreitet niemand mehr, dass eine Währungsunion heterogener Staaten ohne Fiskalunion nicht funktionieren kann. Einst glaubte man, der Euro würde die Unterschiede schrittweise verkleinern. Das Gegenteil passierte. Einst glaubte man, der Stabilitätspakt böte genügend Sicherheit für Haushaltsdisziplin. Fehlanzeige. 73 Mal ist der Pakt bisher folgenlos gebrochen worden.

Nun fordern immer mehr eine „Amputation“ der unheilbaren Euroglieder. Ohne Austritt Griechenlands werde die Währungsunion nicht am Leben bleiben. Gerade davon befürchten andere den Dominoeffekt weiterer Austritte von Staaten. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“, warnt die deutsche Bundeskanzlerin.

Bürgerbeteiligung unabdingbar

Es war die Politik, die die EU in eine Lage manövriert hat, in der es nur mehr schlechte und noch schlechtere Lösungen gibt. Inzwischen bedroht der Eurospaltpilz auch Merkels Koalitionsregierung in Berlin. Es brennt der Hut.

Ein entscheidender Aspekt kommt meist zu kurz: die Bürgerbeteiligung. Unabdingbar, weil es um Bürgschaften von hunderten Milliarden Euro geht, ja um die Zukunft des Nationalstaates schlechthin. Die Regierungen verschanzen sich hinter ihrem „Exekutivprivileg“. Sie wollen nicht bei jedem Schritt zur Rechenschaft verpflichtet sein. Am Ende sollen die Parlamente Weichenstellungen zustimmen, auf die sie wenig Einfluss haben konnten. Ein neues Demokratieproblem taucht auf.

Die längste Zeit war die EU ein Elitenprojekt „von oben“. Das geht nicht mehr. Wenn die Regierungen das Schulden- und Demokratieproblem nicht ernster nehmen als bisher, kann es geschehen, dass die Euroretter als „Ruinenbaumeister“ Europas enden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2011)

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