Urlaub

Den ganzen Vormittag über liegen die Kinder im Zimmer. Bis ich den Kopf zur Türe hereinstrecke: "Macht wenigstens die Vorhänge auf!"

Die beiden Mädchen vom Bungalow links neben uns haben ein neues Spiel erfunden. Sie sammeln Föhrennadeln. Ganze Berge davon, so viele sie eben mit Armen und Kübeln auf die Seite schaffen können. Die beiden sind circa drei und fünf Jahre alt und müssen die Nadeln in Sicherheit bringen. Vor dem Gärtner! Der will sie nämlich mit der Schubkarre wegführen. „Da kommt er!“, ruft die Größere, „Achtung!“ Und sie verstecken sich mit ihrer Fracht unter der Terrasse.

Auf diesem Campingplatz in Korsika treffen sich Kinder aller Altersstufen. Die ganz Kleinen, denen die Mama das Weiche aus dem Baguette kratzt, und für die der Papa ein Planschbecken aufgeblasen hat. Die etwas Älteren, für die Föhrennadeln ein kostbares Gut sind und Puppen Hunger haben – und kein Erwachsener wird je wissen (auch sie selbst später nicht), wo das Spiel aufhört und der Ernst beginnt und umgekehrt. Die Kinder im Volksschulalter, die am Strand riesige Burgen bauen, und zwar so nah am Wasser, dass eine Welle sie zum Einsturz bringt, was bedeutet, dass man die Mauern verstärken muss, bis die nächste Welle kommt... Eine Sisyphusarbeit und ein Riesenspaß.

Und unsere? Unsere liegen diesen Urlaub den ganzen Vormittag über in ihrem Zimmer. Hannah liest Bücher, die allesamt entweder von alkoholisierten Müttern, krebskranken Vätern, tragisch verunglückten Kindern oder Amokläufern handeln, und die mit Sätzen beginnen wie „Ich hasse mein Leben“. Marlene hört Musik von Sido und Cro: „Ich bin all das, wovor deine Eltern dich immer gewarnt hab'n, doch ich hab Geld und Frau'n und Spaß, und du musst immer noch Bahnfahr'n“. Und wenn ich nicht gegen Mittag in die Höhle träte und in fröhlichem Feldwebelton erklärte, dass in fünf Minuten Abmarsch ist: „Jeder packt seine Taucherbrille und Antreten zum Eincremen!“ Ja, dann. Dann kämen die beiden so bleich aus Korsika zurück, wie sie angekommen sind.

„Kinder“, sage ich, „macht wenigstens die Vorhänge auf!“

Gegen Abend aber werden sie munter. Dann spielen sie auf unserer Terrasse Mühle und Schifferlversenken und erzählen uns beim Essen Anekdoten aus der Schule, („Wirklich, das hat die Lena gesagt?“), und während das Baby von gegenüber schon schläft und das Nachbarsmädchen gerade den ganzen Schmerz der Welt herausplärrt (bin ich froh, dass das vorbei ist!), diskutieren wir bei mehreren Gläsern Wein und zwei Cola die Frage, ob die Unendlichkeit einen Anfang braucht. Und ob es vielleicht mehr als eine Art von Unendlichkeit gibt. „Das Buch“, erzählt Hannah später, „geht gut aus.“ Das letzte Kapitel beginne mit dem Satz „Das Leben ist gar nicht so schlecht“.

Genau.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.