Ich möchte eine Glucke sein

Helikoptermutter möchte ich keine sein. Aber eine Glucke? Warum nicht? Glucken, zumindest wenn es sich um Tiere handelt, sind besser als ihr Ruf.

Ich musste über vierzig Jahre alt werden und in die Karibik reisen, bis ich das erste Mal eine Glucke beobachten konnte. Sie hatte sechs Küken, vier gelbe und zwei schwarze, und marschierte mit ihnen durch ein kleines Dorf. Mutter voran, die kleinen hinterher, wie aus dem Bilderbuch, und wie im Bilderbuch ging auch schon einmal eines verloren oder fiel in den Rinnstein oder schaffte es nicht über die Stufen – und da saß es nun und piepste.

„Pieps“, rief da das Kleine, „Pieps“, rief die Mutter, „Pieps“ rief das Kleine, „Pieps“, rief die Mutter. Und so weiter, und so weiter, bis das Kleine die Mama gefunden hatte.

Ich habe nie beobachtet, dass die Mutter es holen gegangen wäre.


Aufplusterei. Dabei war sie sehr fürsorglich. Wenn ich sie nach dem Frühstück fütterte und eines ihrer Küken drängte sich vor, ließ sie das Stückchen Brot sofort aus dem Schnabel fallen und überließ es dem Kleinen. Und wenn es regnete oder die Dämmerung hereinbrach, suchte sie sich einen ruhigen Platz unter einem Baum, plusterte sich auf, und ich konnte zusehen, wie die Küken bei ihr unterschlüpften. Eins nach dem anderen, bis alle verschwunden waren unter dem dichten, braunen Federkleid.

Im übrigen, habe ich dort erfahren, krähen Hähne nicht nur am Morgen. Sie krähen auch am Tag. Und mitten in der Nacht – um die Wette! Bilderbücher stimmen eben nicht immer. Und Küken finden nicht immer zu ihrer Mama zurück: Am Ende unseres Aufenthalts im Dorf waren nur mehr drei übrig. Die anderen waren wohl verendet. Wurden sie gefressen? Waren sie krank geworden? Eines fanden wir jedenfalls tot im Graben.

Eine Glucke kann ihre Kinder nicht immer beschützen.


„Unvergessliche Kinder“. Und nun zu etwas, was nur bedingt mit der Glucke zu tun hat, aber ein bisschen eben schon: Letzte Woche sind wir durch die Wachau geradelt, und wie immer, wenn wir kleine Dörfer besuchen, haben wir uns die Friedhöfe angesehen. Auf Friedhöfen lernt man einiges. Wer mächtig ist in einem Dorf, welche Familien schon lange ansässig sind, und man stößt auf rätselhafte Schicksale: Da gab es das Grab von Maria und Alfred. Als Maria vor dreißig Jahren gestorben ist, hat Alfred seinen Namen gleich mit auf den Grabstein gravieren lassen, nur das Todesdatum ist noch einzusetzen. Ob Alfred noch lebt? Er müsste weit über 100 sein! Und wenn nicht, wo ist er begraben? Ein anderer Grabstein aus dem 19. Jahrhundert erinnerte an „unsere unvergeßlich braven Kinder“. Es waren fünf. Keines wurde älter als acht.

Ich bin sehr dankbar, dass ich heute lebe.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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