Der Wunsch nach Vergeltung

Wenn Kinder vor Gericht stehen, müssen wir vor allem einen Reflex ausschalten: unseren Wunsch nach Vergeltung.

Wie er wohl aussieht? Er hat schwarze Wuschelhaare. Mehr weiß ich nicht. Von dem 14-Jährigen, der für den IS den Westbahnhof in die Luft sprengen wollte und der deshalb diese Woche vor Gericht stand, wurde kein unverpixeltes Foto veröffentlicht. Das ist gut so. Sehr wichtig sogar. Andererseits: Wenn wir sein Gesicht nicht erkennen können, dann sehen wir auch nicht, dass es vermutlich noch glatt ist, noch weich, wie die Gesichter es in diesem Alter sind.

14, das ist nur eine Zahl. Darum zur Erinnerung:

Wenn unsere Kinder 14 sind, rollen wir mit den Augen, weil sie die Türe wieder einmal ins Schloss geworfen haben, dass der Lack splittert. Wir drohen, ihre Leiberln und Unterhosen nicht mehr zu waschen, wenn wir sie noch einmal, ein einziges Mal, im Flur, unter dem Bett oder im Bad aufklauben müssen. Wir amüsieren oder ärgern uns über ihre plötzliche Humorlosigkeit, über diese Stimmungsschwankungen, über ihre Bockigkeit. Und manchmal wünschen wir uns die Zeit zurück, als sie noch kleiner waren: schon selbstständig, aber verflixt noch einmal nicht so anstrengend.

Das alles tun wir, wenn wir Glück haben. Wenn wir Pech haben – und ja, nicht alles lässt sich steuern, nicht alles ist Erziehung –, dann klappern wir um ein Uhr nachts Lokale ab, auf der Suche nach dem drogensüchtigen Sohn. Dann verzweifeln wir, wenn die Schnitte auf den Unterarmen des Mädchens gar nicht mehr heilen wollen, weil immer neue dazukommen. Dann erfahren wir von einer aufgeschreckten Schulkollegin, dass unser Kind Tabletten hortet.

Ach 14! 14 ist gefährlich. In diesem Alter verlangen die Kinder noch einmal unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, aber wehe wir fragen zu viel oder das Falsche. Sie brauchen unseren Rat, aber wir haben keinen Einfluss mehr darauf, ob sie ihn befolgen. Und sie sind bereit, eine Menge zu glauben, solange es nicht von uns kommt. 14 ist wie drei, nur weniger niedlich und vor allem weniger offensichtlich, denn dass der Dreijährige uns braucht, ist nicht zu überhören. Die Nöte des 14-Jährigen dagegen brauchen ein feines Ohr.

Aber mit 14 ist man strafmündig. Ob das Urteil – acht Monate unbedingt, zwei Jahre bedingt – zu streng war? Zu leicht? Wenn Kinder vor Gericht stehen, müssen wir einen Reflex unterdrücken: unseren Wunsch nach Vergeltung. Klar, wir müssen uns schützen. Und wir müssen zumindest versuchen zu verhindern, dass es noch einmal geschieht. Wir wollen andere davon abhalten, dasselbe zu tun. All das.

Aber Vergeltung? Nein. Es waren Erwachsene, die diesen jungen Menschen manipuliert haben, und Erwachsene, die ihn im Stich gelassen haben. Es gibt hier keine Gerechtigkeit, die durch Strafe wiederherzustellen wäre.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2015)

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