Leise!

Wir verkehren in unserer Familie vermehrt via SMS. "Leise!", schreibe ich an die Tochter: "Leise!" Verflixt noch einmal: "LEISE!!!"

Das passiert immer öfter: Da läuft so ein Geschöpf an mir vorbei, das selbstverständlich von uns verlangt, dass passierte Marillenmarmelade fürs Frühstück im Haus ist und dass ich den Betrag für den Schulskikurs pünktlich überweise. Das außerdem voraussetzt, dass ich weiß, wo sich gerade sein Mathe-Buch befindet und das sich darauf verlässt, dass immer ein trockenes Handtuch bereithängt. Und dann lässt dieses Geschöpf, dieses reizende, reizende Wesen, seine Socken auf dem Tisch liegen. Seine Socken. Seufz. Auf dem Tisch. Seufz.

Also rufe ich: „Fräulein!“ Und lauter: „Fräulein!“ Und schließlich, streng: „Madame Eibel!“ Aber sie reagiert nicht, die süße Tochter, sie geht einfach weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört, das heißt: Es ist möglich, dass sie mich tatsächlich nicht gehört hat, zumindest kann ich das Gegenteil schwer beweisen. Sie trägt nämlich Kopfhörer.

Diese Kopfhörer sind in den vergangenen Monaten zum unverzichtbaren Accessoire geworden, quasi festgetackert an den Teenager-Ohren, was einerseits für die Ü18-Fraktion in diesem Haushalt ein Segen ist, immerhin gibt es nur eines, das für Erwachsenenohren noch grausamer klingt als die sich überschlagenden Stimmen der das Weltgeschehen erklärenden YouTube-Stars – das sind nämlich YouTube-Stars, die Musik machen.

Zu Tisch! Andererseits bringen Kopfhörer den gut eingespielten Alltag einer Familie gehörig durcheinander. Statt alle zu Tisch zu rufen („Pizza ist fertig!“), muss ich jeden persönlich in seinem Winkel abholen. Statt den Kindern zu sagen, sie sollen die Klamotten aufhängen, muss ich sie am Kragen packen, ins Vorzimmer schleifen und mit vorwurfsvollem Finger auf den Berg Mäntel, Jacken und Kappen deuten. Und wenn ich will, dass mir jemand hilft, die Einkäufe in den dritten Stock zu tragen, kann ich nicht mehr klingeln, sondern muss ein SMS schreiben. Oder eine WhatsApp-Nachricht, unsere persönliche Hauspost: „Bitte leiser“, schreibe ich: „Leiser!“ Verflixt noch einmal: „LEISER!“

Dass die Kinder Kopfhörer aufhaben, bedeutet nämlich nicht, dass sie weniger Lärm machen. Es ist nur ein anderer Lärm. Wenn Hannah jetzt kocht, hört man das Geklapper der Töpfe drei Zimmer weiter. Wenn Marlene Nudeln isst, kratzt die Gabel und klirrt der Löffel, dass sogar unsere schon einiges gewöhnten Katzen indigniert den Kopf heben. Und die Türen knallen sogar, wenn gerade keiner protestiert: Weil die Kinder ihn selbst gar nicht hören, den Krach, den sie machen.

Aber ich weiß mich zu wehren: Ich werde mir auch Kopfhörer kaufen, solche, die den Lärm abhalten. Dann können sie sich das „Mama, wo finde ich einen Radiergummi“ abschminken. Weil ich sie nicht höre.

Kann sogar sein, ich bin eingeschlafen.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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