Am Herd

Man ist nie ganz allein

Sonnenstrahlen
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Das ist die Geschichte eines fröhlichen Kindes, dem alles leichtfiel. Ich möchte, dass viele junge Menschen diese Kolumne lesen. Ich möchte, dass sie wissen, es kann passieren.

Es gibt Geschichten, die lassen einen nicht los. Auch nach Jahren nicht. Auch, wenn man längst nicht mehr weiß, wo man sie gehört oder gelesen hat. Die Geschichte, die ich meine, handelt von einem Kind, irgendwo in Deutschland. Einem Buben. Einem netten, unkomplizierten, einem fröhlichen Buben. Er hatte Eltern, die ihn liebten, einen Bruder, mit dem er nicht häufiger stritt, als es unter Geschwistern üblich ist. Er hatte viele Freunde. Immer fiel ihm alles leicht: Schule, Sport, später die Liebe. Und als er 19 war und studieren wollte, weit weg, in einem anderen Land, ließen die Eltern ihn ziehen, wie das Eltern so machen, mit einem weinenden und noch einem weinenden Auge und einem Lächeln: Zeit, dass er die Welt erobert.

Der Brief. Er hat die Welt nicht erobert. Nach einem Jahr hat er seinen Eltern einen Abschiedsbrief geschrieben, dass er nicht mehr könne, dass er nicht mehr weiterwisse und er sie liebe. Er hat sich umgebracht, seinem Leben ein Ende gesetzt, Suizid begangen, den Freitod gewählt, obwohl frei, na ja.

Das ist die Geschichte. Ich möchte, dass viele junge Menschen diese Kolumne lesen. Ich möchte, dass sie wissen, es kann passieren, sogar, wenn doch alles heil schien und hell: Plötzlich lockt die Welt nicht mehr, sie droht. Plötzlich weiß man nicht, warum man aufstehen sollte, wie diesen Tag schaffen, und da kommen ja noch so viele! Vielleicht bist du wütend. Auf die Welt. Auf die Menschen. Oder müde, so müde: Du trägst die Einkäufe nach Hause und musst dich an eine Mauer lehnen, weil der kurze Weg dir zu lang wird. Im Frühling hörst du die Vögel nicht mehr, und im Sommer macht der Sand zwischen den Zehen dich traurig, weil du dich erinnern kannst, dass er dich früher einmal, in einem weit entfernten Leben, glücklich gemacht hat. Du fragst dich, ob das immer so weitergeht. Nein, du fragst nicht: Du bist dir sicher. So wird es sein.

Hilfe. Vielleicht hörst du das Wort: Depression. Und du denkst, das hat nichts mit dir zu tun. Die Welt, sie ist wirklich schlecht, die Liebe wirklich verloren, die Zukunft so düster, dass es sich nicht lohnt, auf sie zu warten. Und darum sollen die anderen ruhig zu Therapeuten gehen, sollen Medikamente nehmen, aber das ist nichts für dich, du bist ja nicht krank, bei dir ist es echt, und dir ist nicht zu helfen.

Aber das stimmt nicht. Man ist nämlich, auch wenn man sich für einzigartig hält, gar nicht so anders als die anderen. In Kummer und Glück, in Hass und Liebe, wenn sie hoffen oder verzweifeln, sind die Menschen einander sehr ähnlich. Was so vielen anderen hilft, kann also auch dir helfen. So aus der Art gefallen bist du nicht. Und das ist schön: Man ist nie ganz allein.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2017)

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