Im Dschungel der Geschlechter: Nachdenken über Gender-Identität

Obwohl sicherlich gut gemeint, ist die Forderung nach Geschlechterbeliebigkeit nicht wirklich lebensfähig.

Zu Zeiten von Conchita Wurst ist es für einen Biologen gefährlich, über biologisches Geschlecht und mentale und gesellschaftliche Gender-Identität zu schreiben. Aber es scheint nötig. Biologisch gibt es nun einmal die zwei Geschlechter, manifestiert über unterschiedliche Chromosomen, Geschlechtszellen, Hormone – bis hin zur unterschiedlichen Bio-Psychologie. Und immer schon zeitigten die ständigen Befruchtereien und Reibereien zwischen den Geschlechtern enorme gesellschaftliche Konsequenzen.

Bekannt ist, dass es neben der Mehrheit eindeutig geschlechtsidenter Menschen eine Minderheit gibt, bei denen die Dinge dazwischen oder anders liegen. Nun darf die Verfasstheit einer Mehrheit keine verbindliche Norm für alle sein, wie das offenbar die Machthaber in Russland meinen.

Schließlich bildet in einer liberalen Demokratie der umfassende Respekt für das Anderssein der Minderheiten allemal die Legitimation für das Rechthaben der Mehrheit, nicht nur in Bezug auf Geschlecht und Gender-Identität. Dafür den Begriff der „Toleranz“ zu strapazieren, kommt übrigens einer paternalistischen Zumutung gleich; selbstgefällig tätschelt eine Mehrheit die bärtige Sängerin, „toleriert“ sie. Ein Gnadenakt, noch meilenweit weg von jener selbstverständlichen Anerkennung auf Augenhöhe, die es eigentlich brauchte.

Neben der Farbenblindheit gegenüber der ethnischen Herkunft bleibt die Forderung nach Geschlechterblindheit idealistisch, zutiefst richtig und dennoch unrealistisch. Ist es überhaupt möglich, sich für eine individuelle Gender-Identität frei zu entscheiden oder diese sogar offenzulassen, wie Sibylle Hamann unlängst meinte? Ich fürchte nicht.

Der Kopf mag sich um Geschlechterblindheit bemühen, der Bauch macht dabei aber nicht wirklich mit. Ich muss nicht Sigmund Freud zitieren, um darauf hinzuweisen, dass Geschlechtlichkeit die menschliche Psyche formt und dominiert. Sie ist das evolutionär zentrale Thema seit vielen hunderten Millionen von Jahren; seit Mehrzeller Sex haben, also ihre Gene austauschen. Geschlechterblindheit zu fordern, klingt zwar gut, ist aber in der menschlichen Psyche nicht vorgesehen und daher im realen Leben nicht wirklich möglich.

Geistesgeil, wie sie sind, streben manche Eliten schon seit Langem nach einer Emanzipation von der Natur, entwickelten etwa ihre Göttervorstellungen von Tieridolen bis zum perfekten einzigen Gott nach idealistisch-menschlichem Maßstab. Selbst Gott verblasst heute zugunsten des Menschen als Maß aller Dinge. Die Konflikte, vor allem mit der eigenen Natur, verschärfen sich durch diese Bestrebungen, sich von ihr zu „emanzipieren“. Zwar sicherlich gut gemeint, ist die Forderungen nach Geschlechterbeliebigkeit nicht wirklich lebensfähig.

Menschen mögen ihre evolutionäre Herkunft verleugnen, können sie aber nicht einfach abstreifen. Zudem rekrutiert sich die selbstverständliche Akzeptanz des Anderen auch aus dem Bewusstsein der eigenen Identität und der des Anderen. Blindflüge und Unbestimmtheit verunsichern, führen letztlich immer in die Diskriminierung. Selber bin ich, für mich und andere eindeutig zuordenbar, Mann und Hetero. Anders wäre es auch in Ordnung. Aber vermutlich nur dann, wenn es mir und anderen bewusst wäre.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2014)

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