Trügerische Populationszahlen: Über Inzucht bei den Wölfen

Im Gegensatz zu Schweden könnte sich in Österreich eine gesunde Wolfspopulation etablieren. Wenn man sie ließe.

Durch Konventionen und Gesetze geschützt, sind die Wölfe in Europa wieder rasch im Kommen. Auf weit mehr als 20.000 schätzt man sie mittlerweile, freilich einschließlich der Wölfe im Osten, bis ins europäische Russland.

Die Wölfe der Abruzzen drangen über Jahrzehnte wieder in die Südwestalpen vor und stehen heute bereits in der Schweiz. Auch in Nordwestspanien erstarkten die Populationen und in Deutschland stieg ihre Zahl rasch auf mehr als 300 Tiere. 50 Rudel besiedeln heute einen breiten Gürtel von der Lausitz bis Hamburg. Gleichzeitig leben tausende Wölfe in den europäischen Zoos und Wildparken, die ja damit auch eine Arche-Noah-Funktion erfüllen, also ein Reservoir bilden, falls Wölfe im Freiland Probleme bekommen. Könnte man meinen. Die Studie eines Teams um Jannikke Raikkönen (2013, PlosOne) zum Zustand der Wölfe in Südschweden bremst den optimistischen Zahlenfetischismus.

Erst 1978 wanderte ein einziges Wolfspaar aus dem Norden zu; aus ihnen gingen trotz illegaler Abschüsse bis heute über viele Generationen 300 stark ingezüchtete Wölfe hervor. Über die vergangenen 30 Jahre wurden 171 tote Wölfe untersucht. Bei 17 Prozent wurden Missbildungen der Wirbelsäule, bei 16 Prozent Zahn-und Gebissanomalien gefunden; Tendenz eindeutig steigend. Konservativ gerechnet, trägt heute zumindest jeder zweite der schwedischen Wölfe inzuchtbedingte Missbildungen.

Auch die Zahl der Welpen pro Wurf ging stark zurück. Die Population wird also wieder zusammenbrechen, wenn man es nicht schafft, einen Austauschkorridor nach Norden mit ihrer finnischen Stammpopulation einzurichten. Wird man aber nicht, weil in Mittel- und Nordschweden rentierzüchtende Samen leben, die alles abknallen, was nach Wolf aussieht; ihr Anspruch auf traditionelle Lebensweise, wirtschaftliche Interessen und Political Correctness des Staates den Indigenen gegenüber kollidieren massiv mit dem Artenschutz.

Aber könnte man zur Unterstützung der südschwedischen Kümmerer nicht Wölfe aus Zoonachzucht aussetzen? Keine gute Idee, wie unsere eigenen Erfahrungen zeigen. Von den 17 Wölfen, die wir am Wolfsforschungszentrum in Ernstbrunn seit 2008 aufgezogen haben, stammen sechs aus europäischen Zoos. Drei (!) dieser sechs starben an inzuchtbedingter Epilepsie und Wasserkopf. Und von den anderen elf Wölfen aus US-amerikanischen und kanadischen Institutionen entwickelten manche Probleme mit der Wirbelsäule. Das bedeutet, dass auch die Wölfe in Zoos teils stark ingezüchtet sind. Sowohl im Freiland als auch im Zoo verschwinden Wölfe, die aufgrund von Inzucht neurologische Probleme entwickeln, meist ohne viel Aufsehen.

Das bedeutet auch, dass die schwedische Studie das Problem sicherlich stark unterschätzt. Tatsächlich gibt es heute wohl keinen Wolf in Südschweden mehr ohne Inzuchterscheinungen. Sie teilen dieses Schicksal übrigens mit den gut untersuchten, lang isolierten Wölfen der Isle Royale am kanadischen Lake Superior.

Österreich könnte als geeigneter Lebensraum für bis zu 400 (!) Rudel eine zentrale Rolle bei der Erhaltung der europäischen Wölfe spielen. Aus drei europäischen Populationen wandern laufend Wölfe ein, verschwinden hierzulande aber spurlos. Im Gegensatz zu Schweden könnte sich in Österreich eine genetisch gesunde Wolfspopulation etablieren. Wenn man sie nur ließe...

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2015)

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