Aufnahme oder Untergang? Europa hat keine Alternativen

Die Ankommenden können gesellschaftliches Blühen nur dann katalysieren, wenn die Alteingesessenen mitmachen.

Die Flüchtlingsströme überlagern derzeit alle anderen Themen und überfordern die Politik. Schon heute sind 60 Millionen Menschen disloziert, Tendenz steigend. Nicht nur die Europäer müssen ihnen beistehen, sich bald wieder niederlassen und für sich selbst sorgen zu können – auch im eigenen Interesse. Denn Menschen auf Wanderschaft bedeuteten immer schon Bedrohung. Integration heißt ja letztlich, „die Fremden“ zu „Unsrigen“ zu machen und damit vermeintliche oder wirkliche Gefahr abzuwenden.

Die janusköpfig-ambivalente Reaktion der Staaten und Bürger entbehrt daher nicht einer gewissen Logik. Meinen die einen, sie könnten die Flut durch Zäune und schlechte Behandlung abwenden und zum Nachbarn lenken, haben die anderen zumindest im Herzen erkannt, dass dies nicht funktioniert. Sie setzen auf Aufnahme – freilich ohne ein Konzept, was hunderttausende Menschen aus ziemlich anderen Kulturen für die eigene Zukunft bedeuten.

Die öko-ethologische Theorie der „optimalen Gruppengröße“ sagt, dass sich Zuwanderer, die es sich damit entscheidend verbessern, nicht aufhalten lassen werden: weder durch Zäune noch durch rechtsradikales Gesindel. Mit Folgen: „Die Neuen“ werden sicherlich die Politik verändern. Noch weiß niemand, was das für Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Sozial- und Gesundheitssysteme, für Bildung und Wissenschaft bedeutet. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Aber angesichts der europaweiten politischen Stagnation ist das ohnehin keine Drohung.

Wird die Zuwanderung auf dem Substrat von Humanismus und Aufklärung eine neue kulturelle und wirtschaftliche Blüte in Europa auslösen? Oder wird sie ein Auseinanderfallen und Versteinern der Gesellschaften beschleunigen? Jene Lähmung also, wie sie uns Ungarn mit seinem Verharren in einer nahezu bürgerkriegsähnlichen Gegensätzlichkeit schon lang vor Augen führt?

Täglich erleben wir angesichts des Zustroms „Schengen“ nur noch als obsoleten Spaltpilz. Es braucht neue Lösungen. Gerade weil Konzepte fehlen, wird es sehr auf die Bürgergesellschaft ankommen, für günstige Startbedingungen für positive Entwicklungen zu sorgen. Eine angststarre Politik ist damit überfordert.

Ob neue Blüte oder aber zerstörerisches Chaos wird daher vom Verhalten jedes einzelnen Europäers abhängen. Vom Verhalten den „Neuen“ gegenüber, vom Verhalten an der Wahlurne, von unserem Umgang mit vielen anderen Herausforderungen einer mehrfach traumatisierten Welt, deren gemeinsame Ursache letztlich ist, dass es bereits zu viele Menschen auf der Welt gibt.

Die Ankommenden können Initiativen und gesellschaftliches Blühen nur dann katalysieren, wenn die Alteingesessenen mitmachen und die rechten Rattenfänger verjagen. Es wird Herz und Hirn brauchen. In zahlengetriebener Naivität meint etwa Steven Pinker, die Welt wäre noch nie so friedlich gewesen wie heute.

Warum aber waren dann noch nie so viele Menschen auf der Flucht, warum noch nie so viele versklavt? Die realen Entwicklungen entlarven Abgrenzung als obsoletes Konzept, auch wenn die Gestrigen in der EU das noch nicht verstanden haben. Die Menschen werden nur durch Öffnung und Zusammenarbeit weitere 100 Jahre erträglich überleben. Angesichts des Zerfalls von Staatlichkeiten in immer mehr Teilen der Welt wird die Zuwanderung nicht einfach von selbst aufhören. Je rascher wir unsere rosa Brillen, Schrebergärten und Nationalismen vergessen, desto besser.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)

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