Ein seltsamer Aufbruch im Zeichen menschlicher Nabelschau

Das kleine Österreich bildet das Chaos einer Welt mit zu vielen Menschen ab – auch wenn es gern abgestritten wird.

Die Presse“ und Bundesländerzeitungen luden 66 einflussreiche Persönlichkeiten ein, sich über den Aufbruch aus Trägheit und StillstandGedanken zu machen. Von den Wortspendern waren 74 Prozent Männer (Altersschnitt etwa 60 Jahre), 26 Prozent Frauen (im Schnitt etwa 53 Jahre). Das spiegelt wider, was Karel Schwarzenberg als Nummer 47 der Gefragten sinngemäß so formulierte: Wir leben in einer überalterten Gesellschaft, mit einer Jugend, die zu lasch geworden ist, die Dinge für sich selbst in die Hand zu nehmen – in einer männerdominierten Gerontokratie, genau genommen. Das spiegeln ja auch sehr deutlich unsere Präsidentschaftskandidaten wider. Die Persönlichkeiten des „Aufbruch 66“ meinten, man sollte, man könnte und man müsste . . . und man brauchte dringendst echte Reformen. Denn blinder Politaktionismus verhält sich bekanntlich zur echten Reform wie gut gemeint zu gut. Man las viele Partikuläranliegen, aber wenige Beiträge fielen durch kreative Visionen auf.

Ein getreues Abbild des verkastelten, verkrusteten, alten Österreich. Schlicht skandalös aber, dass keiner der 66 das wohl drängendste Zukunftsthema ansprach: die Lösung der Probleme der Menschen auf Kosten der Natur, in der und von der wir leben. Österreich rast gegen die Ökowand, mit ungebremstem Landverbrauch und Naturvernichtung, dem Verschwinden der Wiesenvögel, den Gewaltorgien gegen Bär, Luchs und Wolf, der sinn-und planlosen Vernichtung von Krähen, wie sie gerade wieder die OÖ Landesregierung in einer Novelle festschreiben will etc. Und niemand scheint es zu bemerken.


Das kleine Österreich bildet damit eine Welt im Chaos ab, die zunehmenden Verteilungskämpfe zwischen zu vielen Menschen. Das wird in einem Zeitalter des immer schamloseren Anthropozentrismus gern abgestritten. So übte Karl Gaulhofer in der Sonntag-„Presse“ vom 14.2. Kritik an Thomas Malthus' Diagnose einer übervölkerten Welt – weil er die Innovationskraft der Menschen unterschätzt hätte. Oberflächlich betrachtet, sieht es tatsächlich so aus. Als ich geboren wurde, beherbergte die Erde knapp zwei Milliarden Menschen, geplagt von grassierenden Hungerepidemien; jetzt nährt die Welt leidlich um die acht Milliarden, Kindersterblichkeit und Armut gehen zurück.

Der Preis dafür ist aber die anhaltende Vernichtung von Lebensräumen, die Ausrottung anderer Arten, veranschaulicht durch die großen Säugetiere wie Elefanten, Tiger, Nashörner, Gorillas etc. Artensterben und Erderwärmung beweisen, dass die bisherigen technokratischen Innovationen zum Wohle der Menschheit auf sehr tönernen Füßen stehen. Längst bröckeln Wohlstand und heile Welt, während die Reichen ihr Vermögen ganz offen ins Trockene bringen. Zuzeiten billigen Öls und durch Krieg und Terrorismus abgelenkter Aufmerksamkeit bleiben die Chancen gering, dass man sich endlich um das Überlebenswesentliche kümmert.

Die Biosphäre wird durch Schönreden nicht gerettet. Dazu gehört angesichts der wahren Probleme ein Stück weit auch der heimische Reformdiskurs. Am allernötigsten ist eine grundlegende Veränderung unserer Beziehungen zur Umwelt. Wir sägen letztlich den Ast, auf dem wir sitzen, ab, wenn wir weiter Lebensräume vernichten und das Lebensrecht anderer Arten weiter mit Füßen treten. Das unmittelbare Menschenwohl scheint immer wichtiger als die Achtung vor der gesamten Natur. Eine Nabelschau, die uns sehenden Auges ins Verderben führt.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2016)

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