Renault wagt den Neustart in die gehobene Mittelklasse – mit einem erkennbaren Qualitätssprung, motiviertem Namen und technischen Features wie Allradlenkung. Beim PS-Wettrüsten ist der Talisman nicht dabei.
Seit Mitte der 1970er-Jahre liefert Renault standhaft Modelle der oberen Mittelklasse ab. Die Ahnenreihe über R30, R25, Safrane und Vel Satis taugt aber nicht zwingend zur Heldensaga. Das Entschlummern des zuletzt zugemuteten Beute-Samsungs Latitude blieb auf dem Markt ebenso unbemerkt wie sein Erscheinen. Auch der kleinere und theoretisch absatztauglichere Laguna war trotz ehrenwerter Begleitumstände wie Allradlenkung und Coupévariante kein Glückskind und ist inzwischen ebenfalls unauffällig entwichen.
Mehr Fortune will sich der Nachfolger sichern: Talisman ist zumindest eine ungewöhnliche Namenswahl. Davon abgesehen gibt sich Renault merkbar bemüht, die klassischen französischen Automobilbautugenden Eleganz, Komfort und das gewisse Etwas an Andersartigkeit wiederzubeleben. Dass er als Produkt weltweit funktionieren muss, hat dem Design ein wenig von der möglichen Schneid genommen – der Spielraum zwischen markttauglicher Gefälligkeit und eigenständigem Charakter ist in diesem konservativen Segment aber ohnehin gering.
Die gestreckte Linie des mit 4,85 Metern recht ausgewachsenen Talisman ist jedenfalls harmonisch und proportioniert gelungen. Die scharfen Längskanten der Motorhaube retten das etwas beliebige Kühlergrill-Layout, die Seitenlinie setzt über den hinteren Radhäusern zu einem eleganten Schwung Richtung coupéartigem Heck an.
Der Innenraum gibt sich klar und aufgeräumt, Holz und Leder schaffen eine Designerhotelatmosphäre mit wohnlicher Note.
Die Anzeige des digitalen Zentralinstruments für Tacho und Drehzahlmesser ist variabel, das optionale 8,7 Zoll Display in der Mittelkonsole steht hochkant und verstärkt damit die Anmutung eines Tablet-Bildschirms.
Wie schon der Espace wird auch der Talisman mit Allradlenkung angeboten, dazu sind Fahrkomfort und -dynamik in vier Abstufungen plus einer frei kombinierbaren Belegung variierbar. Das Dieselprogramm reicht von 110 über 130 bis zu 160 PS, für die stärkeren ist das sechsgängige Doppelkupplungsgetriebe EDC im Angebot. Die 150 und 200 PS starken Benziner werden exklusiv mit Siebengang-EDC ausgestattet. Zur IAA in Frankfurt soll schon der Kombi präsentiert werden, auf der Vienna Autoshow im Jänner werden zeitgerecht zum Verkaufsstart beide Varianten zu sehen sein.
Der Talisman betritt schwieriges Terrain. Die jahrelang zelebrierte Modell-Fadesse hat die frankophile Fangemeinde arg dezimiert. Das Segment ist heute europaweit fest in deutscher Hand, und deren Auswahl an Varianten, Motoren und Getrieben übersteigt die Leistungsfähigkeit der Mitbewerber bei Weitem. Dem Image-Limit durch Frontantrieb und 200-PS-Leistungsobergrenze setzt Renault also bewusst seinen neuen Komfortindividualismus entgegen. Der damit gepflasterte Glückspfad des Talisman wird eventuell aber ohnehin bald aus Europa heraus und Richtung Asien führen, wo französischer Chic gefragt ist, einfachere Marktbedingungen herrschen und Renault auf starke Kooperationen bauen kann. (pab)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2015)