Die Tränen der Ergriffenheit fließen in Strömen

Trockentraining: Unser Mann für schnelle Bikes probt das Festhalten auf der H2.
Trockentraining: Unser Mann für schnelle Bikes probt das Festhalten auf der H2.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Kawasakis Ninja H2 ist ein Stück Bike-Geschichte, das auch ein wenig zum Fürchten ist: Mit 200 PS zieht einem das erste Serienmotorrad mit Kompressormotor buchstäblich die Arme lang.

Der Kompressorlader pfeift mit Überschallgeschwindigkeit, im Cockpit vollführen Hinweislampen mit der alarmierenden Aufschrift „Boost“ einen Lichtertanz, die Arme werden lang gezogen wie bei einem Fall ins schwarze Loch: Kawasakis Ninja H2 ist zum Start freigegeben. Ein Prestigeprojekt, über das viel geflüstert wurde – und nun sitzen wir im Sattel!

Kawasaki Heavy Industries ist ein Konzern, der in vielen Sparten aktiv ist. So gelangte beim Bau des ersten serienmäßigen Kompressormotors in der Motorradgeschichte konzerninternes Know-how aus der Luftfahrt- und Turbinenbautechnologie zum Einsatz. Ein weiterer Vorteil der autarken Produktionsweise: Der Kompressor wurde vom Reißbrett weg in den Motor integriert, ein großer Unterschied zu den vielen Tuning- und Bastlerkomponenten, was sich extrem positiv auf die Fahreigenschaften der H2 auswirkt.

Die technischen Daten des Vierzylinders entsprechen auf dem Papier denen heutiger Superbikes, wie sie auf der Rennstrecke im Wettbewerb stehen: 200 PS, Drehmoment: 133 Newtonmeter. Richtig astronomisch wird es bei der allerdings nicht mehr straßenzugelassenen H2R, die brutale 310 PS/165 Nm aus dem Ärmel schüttelt und eine Spitzengeschwindigkeit von mehr als 350 km/h erreicht – crazy!

Doch zurück zur H2. So muss sich der Flug in einem Kampfjet anfühlen. Raketenartig der Schub, der beim ersten Zupfen des Gashahns einsetzt und über den gesamten Drehzahlbereich keine Milde walten lässt. Mit 130.000 U/min presst der Impeller des Kompressorladers Luft in den Brennraum. Wandert der Zeiger in Richtung des fünfstelligen Drehzahlbereichs, ist gänzlich die Hölle los auf der H2. Arme und Beine verrichten maximale Arbeit, um den Piloten überhaupt noch auf dem Sitz zu halten. Bleibt nur Walter Röhrl zu zitieren: „Beschleunigung ist, wenn die Tränen der Ergriffenheit waagerecht nach hinten abfließen.“ Auf der H2 tun sie dies in Strömen.

Kawasakis Kompressormotor ist eine Glanzleistung der Triebwerkstechnik, mit der man in ungeahnte Dimensionen der Beschleunigung vordringt. Derartig viel Power benötigt Elektronik und Bremsanlage im höchsten Reifegrad, um noch fahrbar zu bleiben. Kawasakis hauseigene Traktionskontrolle verrichtet wie gewohnt erstklassige Arbeit. Das Bike liegt gut auf der Straße. Fahrwerk und Handling sind hervorragend; die Sitzpostion überraschend aufrecht. Beeindruckend: die 330 mm großen Doppelscheibenbremse vorn von Brembo. Kompromisslos verzögern die Bremsbacken und zügeln die 238 kg schwere Kawa, der man im nächsten Augenblick schon wieder die Sporen mittels Kompressor-Power gibt. Ein Quickshifter fürs Hinaufschalten rundet die Tempo-Orgie stimmig ab. Ein Rausch der Sinne, ein Tosen von Adrenalin, vielleicht nicht ganz im Sinne der StVO ...

Dennoch, sie ist ein ganz besonderes Bike. Kawasakis Ninja H2 hat uns schlaflose Nächte beschert. Für 31.000 Euro erhält man die derzeit extremste Maschine, die der Motorradmarkt zu bieten hat. Ein Stück Bike-Geschichte! (grund)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2015)

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