In der Begegnungszone mit der Fliehkraft

Ein Grünspecht sucht die Begegnung: AMG-Mercedes GTR.
Ein Grünspecht sucht die Begegnung: AMG-Mercedes GTR.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die boomende Mercedes-Tochter AMG schwingt sich mit ihrem neuen Topmodell zur ernst zu nehmenden Sportwagenmarke auf. Das Auto verbeißt namhafte Konkurrenten – und ist nur der Auftakt für einen noch größeren Coup.

Die Neigungsgruppe Sportwagen hat ein neues Objekt der Verehrung, oder gern auch: Anbetung. Was nach einer nüchternen Aneinanderreihung vieler Buchstaben aussieht, entfaltet im Ohr des Kenners durchaus bedeutungsvollen Klang: Mercedes-AMG GT R. Qualifiziert für die höchsten Weihen der Szene hat sich nämliches Vehikel durch einen flotten Ritt über den geheiligten Asphalt der Nürburgring-Nordschleife, den die Stoppuhr des diesbezüglich kundigen Fachmagazins „sport auto“ mit sieben Minuten, zehn Sekunden und 92 Hundertstel festhielt.

Das ist mit Sicherheit zu schnell, um auf dem knapp 21 Kilometer langen Kurs – eine brisante Mischung aus Rennstrecke und Landstraße –, die schöne Landschaft der grünen Eifel zu genießen. Besonders alarmierend ist aber, wen der Newcomer im StVO-tauglichen Serientrimm vom Spitzenplatz in der Bestenliste verdrängte: Porsches fast eine Million Euro teures, 900 PS starkes Hypercar 918 Spyder. Aber hallo, raunte die Gemeinde.


Motoren-Druide. Freilich, schnelle Autos waren immer schon das Geschäft der Firma AMG, auch wenn man sich bei der Gründung vor 50 Jahren auf eher unwahrscheinliche Objekte für gepflegtes Frisieren verlegt hatte: auf die großen, schweren, sicher nicht übermäßig sportiven Limousinen von Mercedes-Benz.

Die beiden Daimler-Abgänger Hans Werner Aufrecht und Erhard Melcher – die beiden ersten Buchstaben des Akronyms, der Gründungsort Großaspach liefert den dritten – hatten ihrem Arbeitgeber den Ausstieg aus dem Rennsport nicht recht verziehen, so beschlossen sie, die Dinge auf eigene Faust voranzutreiben. Speziell das kundige Händchen des „Nockenwellenflüsterers“ Erhard Melcher vermochte die ehrwürdigen Achtzylinder des Hauses auf druidenhafte Weise zu erfrischen. Kurzum: Man machte den feinen Schlitten gehörig Beine, und dass eine Che Guevara-Fahne aus dem Gebäude hing, während im Hof an Bonzenautos geschraubt wurde, ist zumindest eine schöne Sixties-Anekdote.

Achtungserfolge im Rennsport rückten AMG langsam, aber sicher in den Fokus der Untertürkheimer Führungsetage, die zunächst nicht recht wusste, was von den „Tuning-Verrückten“ zu halten war: Was machen die mit unseren schönen Autos? Insofern schon eine erstaunliche Karriere der einstigen Bastelbude, die 1999 durch eine Mehrheitsübernahme von Daimler zur Performance- und Exklusivmarke des Konzerns aufstieg.


Heldengeschichte. Somit hat auch Mercedes-AMG seine Heldengeschichte. Gefragt war die Tuning-Expertise der Truppe ohnehin: Mercedes suchte sich in den 1990ern zunehmend vom Ruch der zwar noblen, aber doch Hut- und Herrenfahrermarke zu befreien und wollte speziell in Sachen Sportlichkeit nicht länger hinter dem ewigen Rivalen BMW zurückstehen.

Die unerquickliche, nur in eine Richtung lukrative Zusammenarbeit von Mercedes mit McLaren am Supercar SLR (2003-2009) kam AMG nur zupass – statt lediglich Motoren zu liefern, wurden die Projekte immer größer, immer mehr die Baureihen, die das prestigeträchtige AMG-Signet verliehen bekamen. Zum Firmenmythos gehört speziell jenes im Motorraum – mit Namen und Signatur des zuständigen Monteurs: „One man, one engine.“

Heute trägt AMG nicht unerheblich zum Betriebsergebnis des Daimlerkonzerns bei. Gut 100.000 margenträchtige Autos der gehobenen Leistungs- und Ausstattungsklasse wurden 2016 ausgeliefert, damit liegt man weit vor den Sportabteilungen von Audi und BMW. 14 Baureihen von der A- bis zur S-Klasse umfasst das Portfolio, auch die SUVs und sogar die urige, in Graz gebaute G-Klasse werden in den schwäbischen Zaubertrank getaucht.

Höhepunkt ist allerdings die GT-Reihe: ein kompromissloser Sportwagen, den AMG von Grund auf selbst entwickeln durfte – mithin das Kühnste, von dem die Gründer vor einem halben Jahrhundert wohl zu träumen gewagt hätten.

Und es hat ganz den Anschein, als würde es jetzt erst richtig losgehen.


Pfeilgiftfroschgrün. Ein Sportwagen in der Farbe eines Pfeilgiftfrosches ist generell keine sehr private Angelegenheit, in der Aufmachung des GT R wird eine Straßenattraktion daraus. Eine Schnauze, die am Asphalt zu schnuppern scheint, die bootslange Motorhaube, die wie mit Mühe um die breiten Radhäuser gespannte Karosserie, schließlich das bullige Heck mit zerfurchtem Unterboden und schnurgeradem Balken obendrauf – hier vermutet man richtig die Zutaten für rennsportähnliche Auftritte. Seine volle Wirkung vermag das Auto tatsächlich erst im dynamischen Zustand zu entfalten.

Doch zunächst zum Unterbau, der im Genre gar nicht besonders exotisch ist: vorn ein vier Liter großer, mit 209 kg Gewicht ausgesprochen leichter Achtzylinder mit zwei Turboladern, hinten das Getriebe und der Antrieb. Dazwischen freilich allerlei Wunderdinge aus der Druidenwerkstatt, etwa die Einrichtung einer aktiven Aerodynamik. Dabei wird bei Geschwindigkeiten ab 80 km/h der Frontsplitter abgesenkt, was den Luftstrom durch den Venturi-Effekt beschleunigt und durch den entstehenden Unterdruck den Auftrieb des Fahrzeugs an der Front reduziert, sprich: Das Auto wird regelrecht an die Straße geschraubt, wenn das nicht wie ein Widerspruch in sich klingt. Am Heck sorgt ein tatsächlich rennsportartiger Diffusor für den Ansaugeffekt, zusätzlich stemmt sich der nicht kleinlich ausgefallene Flügel im Fahrtwind nach Kräften in Richtung Fahrbahn.

Das alles ist eindeutig mehr, als gemeinhin zum Posieren auf Flaniermeilen gebraucht wird.

Lesen sich die bloßen Leistungsdaten schon recht dramatisch – 585 PS, 700 Newtonmeter Drehmoment, Spitze 318 km/h, Null auf Hundert in 3,6 Sekunden –, so ist es vor allem der Umgang mit der Luftströmung, der den GT R in eine Liga weit über den schnellen Sportwagen dieser Tage hebt – mit 211.700 Euro zum Preis eines vergleichsweise banalen 911 Turbo. Hier mischen sich schon Schweiß und Adrenalin des Rennsport ins Odeur, offenbar ganz im Sinne einer kleinen, aber zahlungskräftigen und begeisterungsfähigen Zielgruppe. Wer nicht Ferrari, Lamborghini oder Porsche heißt, muss sich wohl durch härteres Zupacken profilieren.

Dafür rollt das Auto sehr manierlich durch die Begegnungszone. Ein gewisser grollender Unterton aus der Auspuffanlage ist nicht zu leugnen, aber Krawallmacher, wohl dem Stern am Kühler geschuldet, ist das Auto keiner. Die Gangwechsel geschmeidig, die Federung verträglich – hier ist kein launiger Exot unterwegs. Und auch wenn es abgesperrte Strecken wie die Nordschleife braucht, um das Auto ernsthaft aus der Reserve zu locken – unseren Ritt über 100 Kurven ins Mariazellerland und zurück haben wir vermutlich nie schneller absolviert – was Details angeht, wollen wir uns hier auf das Recht zu Schweigen berufen.


Formel meins. Der nächste Tusch der Truppe steht bevor: Auf der Frankfurter IAA im Herbst wird ein Konzeptauto präsentiert, mit dem Mercedes-AMG 2019 endgültig aufs Terrain der abgedrehten Hypercars vorrückt: Project One bringt Formel 1-Technik mit Straßenzulassung, bei zwei Mio. Euro beruhigenderweise in kleiner Stückzahl. Nicht weniger als der Motor des 2016er-Wagens des Mercedes-Rennstalls wird hinter dem Cockpit wüten, mit vier Elektromotoren zusammen über 1000 PS stark. Die Klientel der autoverrückten Reichen ist bei AMG auf den Geschmack gekommen. Die Dosis muss erhöht werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2017)

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