"Österreich braucht tiefe Lebensende-Diskussion"

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Mit besserer Palliativmedizin und Hospizbetreuung kann Österreich der Sterbehilfe-Diskussion trotzen, sagt Mediziner Hellmut Samonigg im "Presse"-Interview. Und: Pflege zu Hause kann so gut sein wie im Spital.

Englands Ärzte sollen Listen führen, wer ihrer Einschätzung zufolge in spätestens einem Jahr sterben wird: Diese Nachricht, über die „Die Presse“ vor einigen Tagen berichtet hat, hat Hellmut Samonigg (61) tief bestürzt. Vor 25 Jahren hat der gebürtige Kärntner die Onkologie-Abteilung am Grazer Uni-Klinikum aufgebaut, die er bis heute leitet.

„Lebensende-Pläne“ sollen die britischen Mediziner gemeinsam mit Patienten und Angehörigen erstellen. Die Politik erhofft sich Einsparungen, weil angeblich viele Patienten lieber zu Hause als im Spital sterben würden. Der „Presse“ erklärte Samonigg, was so falsch an dieser Initiative ist, und was für Menschen in der letzten Lebensphase stattdessen getan werden muss.

Die Presse: Sie sind ein Arzt mit langjähriger Erfahrung. Würden Sie sich zutrauen zu bestimmen, welcher Ihrer Patienten vermutlich in den nächsten Monaten sterben wird?

Hellmut Samonigg: Nein, Prognosen über einen so langen Zeitraum sind völlig inakzeptabel, man weiß, dass selbst erfahrene Ärzte sich sehr verschätzen können.

Was halten Sie sonst von der „Lebensende-Planung“, wie sie England derzeit forciert?

Mir gefällt allein schon das Wort „Planung“ überhaupt nicht, ich spreche lieber von „awareness“. Man muss sich der Bedeutung des Themas stärker bewusst werden und sich damit in der Planung der Krankenversorgung noch intensiver auseinandersetzen. Aber auf keinen Fall darf man die „End of Life Care“ politisch zentral steuern, noch dazu unter dem Gesichtspunkt finanzieller Einsparung.

Stimmt es, dass die meisten Patienten am liebsten zu Hause sterben?

In vielen Fällen, wenn die Angehörigen das bewältigen und auch vonseiten der Ärzte und Pfleger die Betreuung zu Hause gewährleistet werden kann, ist das sicherlich der anstrebenswerteste Ort. Eine gute Pflege in häuslicher Umgebung ist aber nicht von minderer Qualität und auch nicht billiger, auch eine hoch qualitative mobile Betreuung kostet Geld.

Kritiker der britischen Initiative befürchten, dass durch den Verzicht auf künstliche Ernährung und andere lebenserhaltende Maßnahmen quasi automatisch zu Hause das Leben verkürzt wird.

Das stimmt so nicht. Es kann sinnvoll sein, die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr am Lebensende in gewissen Situationen zu reduzieren, ohne dass der Patient deswegen früher stirbt. Viel Flüssigkeit und Nahrung bedeuten hingegen oft eine massive Belastung für den Körper, dadurch kann sich die Lebensqualität sogar verschlechtern, und zwar ohne dass dadurch das Leben verlängert wird. Es stimmt auch nicht, dass starke Schmerzmittel zwangsläufig das Leben verkürzen.

Wo steht Österreich in Sachen „End of Life Care“, also Sorge für Menschen am Lebensende?

Wir kümmern uns hier viel zu wenig um das Thema, andere Länder diskutieren das offener. Es fehlt eine tiefer gehende kontinuierliche öffentliche Diskussion. Die Patientenverfügung war zwar ein wichtiger Schritt, wird aber viel zu wenig genutzt. Immerhin ist es durch eine jahrelange, erfolgreiche Aufholaktion in Sachen Palliativmedizin und Hospizbetreuung gelungen, der immer wieder aufflackernden Sterbehilfe-Diskussion etwas entgegenzusetzen. Gott sei Dank gehen wir bisher nicht den scheinbar leichteren Weg wie in den Niederlanden, die aktive Sterbehilfe zu legalisieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2012)

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