Bahnreisenden in Österreich steht in drei Wochen die massivste Fahrplanänderung seit Jahrzehnten bevor: Mit der neuen Westbahntrasse ist das Auto nach Linz oder Salzburg nicht mehr konkurrenzfähig.
Wien/St. Pölten. Der zweite Sonntag im Dezember ist für Zugreisende in ganze Europa traditionell ein Lostag: Immer zu diesem Datum – heuer am 9. Dezember – treten auf dem ganzen Kontinent neue Zugfahrpläne in Kraft. Während das besonders für Pendler normalerweise eine eher lästige Pflichtübung ist – übers Jahr eingelernte Abfahrtsroutinen ändern sich, einige Verbindungen fallen aus, neue Halte werden angefahren –, steht in drei Wochen eine bahnbrechende Änderung an.
Denn mit dem diesjährigen Fahrplanwechsel, der am Montag vorgestellt wurde, geht die neue Westbahnstrecke zwischen Hütteldorf und St. Pölten in Betrieb (siehe Grafik unten). Wo sich Züge auf einer kurvigen, teils steilen Strecke durch den Wienerwald winden mussten, zweigt die neue, 60 Kilometer lange Trasse kurz nach Hütteldorf von der 1860 eröffneten Bahn ab und führt durch den Wienerwaldtunnel auf das Tullnerfeld – wo Züge auf der flachen, spießgeraden Strecke (wofür neun Tunnel sorgen) bis zu 230 Stundenkilometer erreichen können.
75 Minuten von Wien nach Linz
Das macht sich auch in dem neuen Fahrplan bemerkbar: 25 Minuten wird eine Fahrt vom Westbahnhof nach St. Pölten ab 9. Dezember nur noch dauern – bisher benötigten selbst die schnellsten Züge 40 Minuten. Ein Zeitgewinn, der sich auf der gesamten Weststrecke fortpflanzt: Über die gesamte Achse Wien–Bregenz verspricht die ÖBB (und auch die teilprivate Westbahn, die ebenfalls auf der neuen Strecke verkehrt) eine Zeitersparnis von bis zu 23 Minuten: Nach Salzburg wird etwa die Fahrt mit dem Railjet nur noch zwei Stunden und 22 Minuten dauern, Wien–Linz eineinviertel Stunden. Zum Vergleich: Um die 177 Straßenkilometer vom Westbahnhof zum Bahnhof der oberösterreichischen Landeshauptstadt mit dem Auto in derselben Zeit zurückzulegen, müsste man durchschnittlich (!) 141,6 Stundenkilometer auf den Tacho bringen; für die 291 Kilometer lange Fahrt ins Salzburger Zentrum noch immer 122,8 km/h. Kurz: Für Reisende von Zentrum zu Zentrum ist das Auto auf diesen Strecken ab Eröffnung der neuen Trasse schlicht nicht mehr konkurrenzfähig.
2012 ist ein "entscheidendes Bahnjahr". Der Wiener Hauptbahnhof nimmt den ersten Teilbetrieb für den Nahverkehr auf, 70 Kilometer Tunnel und 100 Streckenkilometer Gleise werden neu in Betrieb genommen - darunter auch der viergleisige Ausbau der Westbahnstrecke zwischen St. Pölten und Wien. Ein Lokalaugenschein.
Die 44 Kilometer lange Neubaustrecke soll mit dem Winterfahrplan im Dezember in Betrieb genommen werden. Sie führt durch sieben Tunnels und über 27 Brücken.
Die Trasse ist für Geschwindigkeiten von bis zu 250 km/h ausgelegt. Die Fahrzeit von St. Pölten nach Wien-West (und umgekehrt) reduziert sich von 40 auf 25 Minuten. Die Strecke Wien - Salzburg ist dann in etwa zweieinhalb Stunden absolviert.
Mit der Planung wurde bereits 1990 begonnen. Das Projekt ist eines der ersten Österreichs, das einer Umweltverträglichkeitsprüfung nach UVP-Gesetz unterzogen wurde, so die ÖBB. Baubeginn war 2003.
In Fahrtrichtung St. Pölten startet die neue Hochleistungstrasse bei Hadersdorf. In der "Weichenhalle" knüpft sie an den Lainzer Tunnel an. (c) APA (GEORG HOCHMUTH)
Unterhalb des Wienerwalds wird die Strecke in einem 13,3 Kilometer langen Tunnnel geführt - der erste Abschnitt zweigleisig in einer Röhre, dann in zwei eingleisigen Röhren. Das Westportal liegt in der Nähe der Ortschaft Chorherrn.
Danach geht es über etwa zehn Kilometer am Südrand des Tullnerfelds in offener Streckenführung weiter.
Mitten im Niemandsland auf weitem Feld wird der Regionalbahnhof Tullnerfeld mit 500 Pkw-Parkplätzen errichtet. Von dort - in der Gegend von Michelhausen/Langenrohr - benötigt man nach Wien oder St. Pölten jeweils knapp 15 Minuten.
Durch die Reaktivierung der Tullner Westschleife erfolgt dort auch die Einbindung der Franz-Josefs-Bahn. Pendler aus dem Waldviertel gelangen somit schneller nach Wien.
Der Rohbau des Überholbahnhofs wurde bereits im September 2006 fertiggestellt.
Für Bahnreisende wird die Aussicht großteils beschränkt bleiben. Der größte Teil der Fahrt erfolgt entlang von Lärmschutzwänden, aufgeschütteten Dämmen oder durch Tunnels.
Südlich der Perschling verläuft der Großteil des dritten, des sogenannten Westabschnitts der neuen Bahnstrecke. Dessen Kernstück ist die Tunnelkette Perschling.
Knapp vor der S33, beim Knoten Wagram, erfolgt wieder der Zusammenschluss mit der bereits bestehenden Westbahntrasse.
Tempo machen im Tullnerfeld
Mehr S-Bahnen auf alter Strecke
Dass Fernreisezüge in Zukunft die neue Strecke befahren, entlastet die alte Wienerwaldstrecke – was dringend notwendig war: Weder die jahrzehntealte Substanz noch die wenigen Überholmöglichkeiten dieser „Kaiserin-Elisabeth-Bahn“ waren der Kombination von Güter-, Personenfern- und Pendlerverkehr gewachsen – die Trasse war ein kritischer Punkt, auf dem häufig Verspätungen entstanden.
Stillgelegt wird sie nicht, im Gegenteil: Für Reisende der Pendlergemeinden im Wienerwald – Pressbaum, Gablitz, Purkersdorf – wird der Takt der S-Bahnlinien 50 und 60 verdichtet: Mit Regionalzügen steht ab Dezember in der Morgenstoßzeit ein 10-Minuten-Taktverkehr zur Verfügung. (>> Mehr zu den neuen S-Bahnlinien)
Den Plan der ÖBB, die Tullnerfeld-Trasse als bloße Durchzugsstrecke zu führen, hat das Land Niederösterreich verhindert: Nach Verhandlungen wurde auf halber Strecke zwischen Wien und St. Pölten der „Regionalbahnhof Tullnerfeld“ eingeplant – eine Haltestelle allein auf weiter Flur, an der ab 9. Dezember ÖBB-Intercitys und Westbahn-Züge halten. Auch Mittelstreckenpendler profitieren von der Trasse: „Rex200“-Züge bringen die Strecke Wien–St.Pölten mit 200 km/h hinter sich – und verwandeln sich dann auf der Strecke St. Pölten-Loosdorf-Melk-Pöchlarn-Ybbs in langsame „Rex“-Züge.
Erstmals können die Fahrgäste der ÖBB vom Zug aus einen kurzen Blick auf die größte Baustelle Österreichs werfen. Denn ab sofort fahren täglich rund 200 Züge durch den Wiener Hauptbahnhof. Drei Gleise stehen dafür zur Verfügung. Ein- und Aussteigen wird aber erst ab 9. Dezember 2012 möglich sein. (c) Florian Wieser
120 Personenzüge - darunter die Railjets zwischen München und Budapest oder zwischen Wien-Meidling und München - und rund 80 Güterzüge werden ab nun täglich den Hauptbahnhof passieren. Bei den insgesamt 200 Zügen sind bereits Verschub-, Logistik- und Leerfahrten inkludiert. (c) APA (Herbert Pfarrhofer)
Bisher musste der betroffene Bahnverkehr auf einer provisorischen Trasse die Baustelle umfahren. Diese Ausweichstrecke wird nun abgetragen. (c) APA (Herbert Pfarrhofer)
Tatsächlich wird der Hauptbahnhof erst mit dem Fahrplanwechsel 2012/13 in Betrieb gehen. Am 9. Dezemeber werden die ersten Nahverkehrszüge der Ostbahn (über Gramatneusiedl, Bruck an der Leitha) und der Marchegger Ostbahn (über Simmering, Stadlau) an der Großhaltestelle stoppen. Der aus Containern bestehende, provisorische Ostbahnhof wird dann abgerissen. (c) DiePresse.com
Da die Ostbahn bisher auf einer anderen Höhe verlief, wurden zum Angleich an das Niveau des neuen Hauptbahnhofes eine Million Kubikmeter Erdmaterial verarbeitet. (c) DiePresse.com
Ab Winter werden außerdem drei Linien über den Hauptbahnhof weitergeführt: die Schnellbahnlinie S60 ab Bruck/Leitha bis Hütteldorf, die REX-Züge ab Bratislava bis Deutschkreuz und die S80 ab Erzherzog Karl Straße über die Pottendorfer Linie bis Wiener Neustadt. Insgesamt vier Gleise mit Bahnsteigen und ein Durchfahrtsgleis stehen dann zur Verfügung. (c) DiePresse.com
Offiziell eröffnet wird der Hauptbahnhof erst Ende 2014. Bis dahin werden noch sechs weitere Bahnsteigkanten in Richtung Gürtel gebaut. Erst dann halten dort auch Fernverkehrszüge. (c) DiePresse.com
Im Bahnhofs-Einkaufszentrum, das seine Pforten im September 2014 – also noch vor der Fertigstellung des Bahnhofs – eröffnen soll, werden rund 115 Geschäfte auf einer Verkaufsfläche von 20.000 Quadratmetern errichtet. (c) DiePresse.com
Außerdem entsteht in den nächsten Jahren ein neues Stadtviertel mit Büro- und Wohnkomplexen im südlichen Teil des Areals. (c) DiePresse.com
Ab Dezember 2015 wird es dann auch eine direkte Verbindung zwischen dem Hauptbahnhof und dem Flughafen Wien Schwechat geben. (c) DiePresse.com
Insgesamt hat die ÖBB vier Milliarden Euro budgetiert, eine Millarde davon für die Verkehrsstation. Laut Projektleiterin Judith Engel liege man derzeit im Plan. Rund zwei Drittel der Summe seien bereits vertraglich gebunden, die Hälfte - also 500 Mio. Euro - wurden schon ausgegeben. (c) DiePresse.com
Mit dem Bau des Hauptbahnhofs würden nachhaltige Impulse für den Fern- und Nahverkehr gesetzt werden, hatte ÖBB-Chef Christian Kern Anfang des Jahres betont: "Wien wird zum Verkehrsknoten eines größeren Europas und nicht bloß zum Endpunkt einer mittelbedeutenden europäischen Stadt." (c) DiePresse.com
Wiens Hauptbahnhof (noch) ohne Halt
Das letzte Element des 2,8 Milliarden Euro teuren Trassenprojekts, der Lainzer Tunnel, wird erst im Dezember 2014 für den Personenverkehr geöffnet. Dann werden Züge, die über die Westbahnstrecke nach Wien kommen, teilweise auch den Hauptbahnhof anfahren. Das tun ab 9. Dezember zahlreiche Regionalzüge. Davon abgesehen ist es für Reisende, die nicht über die Westbahn kommen – ein ganz normaler Fahrplanwechsel.