"Impfskepsis ist ein Luxusproblem"

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Die Kinderkrankheiten breiten sich wieder aus - auch weil die Impfskepsis wächst. Arzt und Ethiker Urban Wiesing spricht sich gegen Impfpflicht, aber für Anreize zum Impfen aus.

Wien. 79 Maserninfektionen wurden 2013 in Österreich registriert, mehr als doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Kinderkrankheiten, die man schon für fast ausgerottet hielt, treten wieder vermehrt auf. Und sie haben nach wie vor fatale Folgen: Bernhard Proppers Sohn starb vor rund einem Jahr an SSPE, einer Folgeerkrankung der Masern. Er wurde 1996 als Säugling – als er noch nicht geimpft werden konnte– infiziert, mit acht zeigten sich Gleichgewichtsstörungen, in den letzten Jahren, so erzählt sein Vater heute, verlor er alle Fähigkeiten, konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr essen oder sprechen.

Fälle wie dieser könnten durch eine hohe Impfrate, eine Herdenimmunität, die auch Menschen schützt, die nicht geimpft werden können, verhindert werden. Soll man aber skeptische Eltern zwingen, dem Impfplan zu folgen? Impfungen gesetzlich vorschreiben, mit Sanktionen drohen? Nein, sagt Urban Wiesing, Mediziner und Ethikprofessor der Uni Tübingen, bei der Podiumsdiskussion „Impfen und Ethik“ im Bundeskanzleramt. Er argumentiert pro Impfen – aber auf freiwilliger Basis.

„Ein Zwang wäre nur bei massiver Gefahr gerechtfertigt – und wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.“ Das sei noch nicht der Fall. In Finnland etwa sei es auch gelungen, die für Masern von der WHO für eine Herdenimmunität empfohlene Impfrate von 95 Prozent ohne Zwang zu erreichen. „Warum soll das in Österreich nicht gelingen?“, sagt er und schlägt ein Anreizsystem vor. Etwa die „kleine Impfpflicht“, also eine Impfung bei Kindern als Voraussetzung, um in Kindergärten oder Krippen betreut zu werden. Eine Maßnahme, die sich auch Ursula Köller, Vorsitzende der Gruppe Impfen der Bioethikkommission, vorstellen kann. Sie spricht die Herdenimmunität als „öffentliches Gut“ an: „Es ist paradox: In Entwicklungsländern gilt Impfen als Grundrecht für Kinder, wir stellen dieses infrage.“ Sie spricht vom Impfen als „ethischer Verpflichtung der Gesellschaft und Kindern gegenüber“ und hält dabei vor allem den einfachen Zugang, etwa durch Schulimpfungen, für essenziell.

2000 bis 4000 Tote pro Tag

Elisabeth Frank, Kinderärztin und Schulärztin an einer Rudolf-Steiner-Schule, sieht Schulimpfungen skeptisch, sie impft an ihrer Schule nicht. Schließlich sei dort die Möglichkeit, Eltern in persönlichen Gesprächen aufzuklären, nicht ausreichend gegeben. Und sie sieht auch Impfungen kritisch: Von der Einführung der HPV-Impfung ohne individuelle Beratung spricht sie etwa als „Wahnsinn“.

Elisabeth Frank kritisiert auch, dass der Impfplan stetig erweitert wird – und zitiert einen Artikel, der eine höhere Zahl von Impfdosen im ersten Lebensjahr mit einer höheren Sterblichkeit in Verbindung bringt.

Argumente, die viele Eltern skeptisch machen. Urban Wiesing spricht von der Impfskepsis, die sich in gebildeten Schichten in Wohlstandsgesellschaften ausbreitet, und der Natürlichkeitsvorstellung – dass das Durchleben einer Infektion wie Masern als Kind das Immunsystem stärke – als Luxusproblem, das erst auftrete, „seit wir nicht mehr sehen, wie unsere Nachbarn von Infektionskrankheiten dahingerafft werden“. Anderswo stellt sich die Frage nicht, „täglich sterben weltweit 2000 bis 4000Menschen, weil sie keinen ausreichenden Impfschutz haben“, sagt Köller. In Österreich könnte die Maserngefahr minimiert werden, wenn das WHO-Ziel einer Impfrate von 95 Prozent erfüllt wird. Mit einem Anreizsystem könnte das Köllers Einschätzung nach in rund fünf Jahren gelingen. (cim)

AUF EINEN BLICK

Pro und kontra Impfen: Ist es ethische Pflicht, sich impfen zu lassen? Und wäre eine gesetzliche Impfpflicht legitim? Diese Fragen wurden bei einer Podiumsdiskussion im Bundeskanzleramt unter der Leitung von „Presse“-Ressortleiterin Ulrike Weiser von u.a. Ursula Köller (Bioethikkommission) und Urban Wiesing (Uni Tübingen) erörtert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2014)

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